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"Wolfgang Folmer, Fotografie und Zeichnungen"

Katalogtext von Franz Joseph van der Grinten, 1994

Der Arbeit Wolfgang Folmers scheinen die Kraft und die Fülle des Barocks eigen zu sein. Aber die Fülle des Barocks ist nichts Anderes als der leidenschaftliche Wunsch, der Wirklichkeit habhaft zu werden, und seine Kraft ist keine andere als die der Intensität dieses Strebens. Fülle ergibt sich aus der Erstreckung des Bewusstseins in alle Richtungen, und sie bedingt Brüche und Verwickeltheiten. Kraft ist die, die sich potenziert, indem sie sich erschöpft: der göttliche Raubbau, ein Austausch, alchemistisch quasi. De facto bewirkt er Reichtum. Dünnhäutig war das Barock, krisengeschüttelt, der Wunsch modifizierte die Wirklichkeit, und es war eher Melancholie, die sich in die Farben diesseitiger Festlichkeit kleidete, todumfangen das volle und ganze Leben, und der Tod der letzte Triumph, man bereitete ihn passend vor, und selbst die Askese war auf ihre Weise ausschweifend. Realitätsversessenheit aus Verunsicherung, Aneignungsgier aus dem Bewusstsein, nichts in Ewigkeit halten zu können, Akzeptanz der Vergänglichkeit als Billett fürs Überdauern, die Wirklichkeit so heiß ersehnt wie grübelnd in Frage gestellt. Kraft, die sich um sich selbst dreht, rhythmisch, wie es ihr sich zu gehören scheint. Vitalität und Melancholie stehen zueinander in einem intimeren Verhältnis als man vermuten möchte. Das Ganze ganz: es gibt sich nur im Teil, das man zu fassen vermag, und nur auf Zeit, wie man sich selbst bewegt in der steten Bewegung der Welt, der letztlich selbstgeschaffenen, um einen her. Ein dauerndes Schaffen mit sich wandelndem Bewusstsein, wechselnden Bedürfnissen, unvorhersehbaren Betroffenheiten. Empfangen und Senden in Permanenz. Das innere Auge, das Sinnesorgan, die Kamera; die Motivation, Hand und Gerät, der Hebel oder Knopf. Das Licht der Erkenntnis und das Licht der Lampen. Mit dem ersteren, aus dem Wissen, dass in der Dynamik des Seins nichts wirklich statischen Bestand haben kann, dass aber nichts, was war, wirklich aufhören kann, zu sein, vertieft sich Wolfgang Folmer in die Erscheinungen der Welt, und seinem Blick schieben sich die Gegebenheiten aus Raum und Zeit übereinander, die gewachsenen und die artifiziellen, die weit vergangenen und die gegenwärtigen, die denkend zu Form und Ausdruck gebrachten und die in Verfall und Flüchtigkeit sich auflösenden. Unersättlichkeit des Blicks, Schärfe der Durchleuchtung. Was in der Weite nicht fassbar wäre, schichtet sich transluzid in eine eigens sich auftuende Tiefe. Raum und Zeit aufgehoben in so etwas wie Palimpseste. Die Außenwelt wird zur Innenschau, das Bewusstsein ist ein Arsenal. All dies lässt Wolfgang Folmer vor allem graphisch geschehen: in Suiten von Photographien, im Übereinanderblenden von Dias, in der Offenheit von Wahl und Folge, in der Entbindung von den zielgerichteten Willensimpulsen. Vor allem im Zeichnen aber denn auch, mit Graphit oder mit Kohle, dicht meist nicht nur durch die Anreicherung der Schwärze, sondern vor allem und oft durch das Eintragen der einen Gegebenheit über die andere. Die Welt erfährt und behält Transparenz schon in der Sichtdurchlässigkeit des gewählten Papiers. Hier und heute ist das Abendland, aber es ist ein Ganzes in diesem seinem Zeit- und Raumkontinuum. Ein persönliches Ganzes, das Wolfgang Folmer aus Gewordenheit und Sein zu eigene. Dass all dies so kraftvoll lebenshaltig ist, ist seinem zeichnerischen Rang zu danken, der Disziplin, der Lust am Zeichnen, der inneren Notwendigkeit, es zu tun. Hinsichtlich des Eiskunstlaufens spricht er von der Richtungswahl durch Gewichtsverlagerung von einem Fuß auf den anderen. Sein Zeichnen ist körpergeboren, als geschähe es wirklich mit den Füßen, mit Füßen freilich, die in höchstem Maße verfeinert wären auf diese zeichnerische Handschrift hin. Palimpsest, Synthese: erfahrener Lebensraum; im Wortursprung fuhr man wirklich, um zu erfahren. Alles ist unsere Welt zugleich: der Strahlenglanz der Heiligen und das Leuchtbild auf dem Fernsehschirm, das Schwert und der Colt, der Ephebe und die Madonna, der Engel und das Flugzeug. Ausschnitte, Vergrößerung, Überlagerungen, Phasen, ein Prozess: definitiv zur Frucht gemacht ist Wolfgang Folmers Methode in den Holzschnitten und Radierungen. Die Holzschnitte erzielen ein dichtes Helldunkel, in dem alle Schattentiefe sich aufhebt in den Gegensatz von reinem Schwarz und reinem Weiß, nah und fern zugleich, aber nicht dazwischen. Er fügt sie aus Einzelbildern zusammen, ehe er sie schneidet, und indem er, was der umgebende Hintergrund des Blattes wäre, wegfallen lässt, gewinnt er ihnen eine körperhafte Einheit. Ist hier das dichte Dunkel der Homogenität des Bretts zu danken, so bei den Radierungen der Dichte von Nadelstrichen, die, kaum moduliert, von einheitlicher Stärke sind und, tief gegraben, der Dunkelheit den Vorrang geben. Zitate von Wirklichkeit, Zitate von Geschichten, Zitate von Wachstum und Dasein wie von Vergänglichkeit und Gedenken. Von, um es zum Schluss noch einmal zu sagen, barocker Üppigkeit, vital, aber tief verschattet, und selbst den flüchtigen Bezeugungen vom Fernsehschirm her ist in der handfest bleibenden Lockerung der Strichstruktur eine bannende Präsenz gegeben. Augustinus sagt: Die Vergangenheit ist nicht, und die Zukunft ist nicht, und die Gegenwart ereignet sich auf der Grenze zwischen beiden. Wolfgang Folmers Arbeit wird auf dieser Grenze geleistet. Es ist eine dynamische Grenze, ihre Balance hat sie aus den Reichen, die an ihr aufeinandertreffen als zwei Bewusstseinsebenen des Einen, das Alles ist.


V. Ellwanger Kunstausstellung 2012

Katalogtext von Dr. Eva-Marina Froitzheim

Wolfgang Folmer konfrontiert den Betrachter in seinen großen Holzschnitten mit Motiven, die in den Tiefen deutscher Volksromantik wurzeln. Nach und nach geben sich dem betrachtenden Auge ein Hirsch, ein Bullterrier, Schweine und Dackel, in den 70er Jahren der Lieblingshund aller Deutschen, zu erkennen. Folmer zitiert archetypische Bilder des Deutschen, die je nach Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht als Ausdruck gelebter Volkstümlichkeit und echter Gemütlichkeit geliebt oder gerade wegen dieser Konnotation strikt abgelehnt werden. Die Tiere sind gepaart mit niedlichen Puppen und Bären, deren sichtbar belassene Nähte sofort die verschämte Assoziation an aufzuschlitzendes Spielzeug wecken. Die märchenhaften Elemente, wie die als Bremer Stadtmusikanten auf einem Tisch aufgetürmten Tiere, sind in der Zusammenführung mit den anderen Gegenständen in den bizarren Szenarien auf ihren meist grausamen Kern, der den meisten Märchen innewohnt, zurückgeführt. Das bühnenhafte Geschehen kippt Folmer komplett in die Fläche. Tische, auf denen die Gegenstände häufig arrangiert werden, unterstreichen die Künstlichkeit der Situation und entlarven das Ganze als Konstruktion des Künstlers. Alles wird zusammengespannt in ein licht- und schattenloses Szenario, klaustrophobisch eingepfercht in mit Paneelen und Backsteinen abgeriegelten Räumen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Die groteske und bösartige Szene, die sich hart am Rande des Kitsches bewegt, wird von einer messerscharfen Linie zusammengehalten. Sie alleine grenzt die durchgängig schwarz gedruckten Flächen voneinander ab, bzw. verbindet sie miteinander. Auch wenn die einzelnen Gegenstände benennbar sind, müssen die Dinge nicht sein, was sie zu sein vorgeben. Umgekehrt stellt Folmer typische Klischees auf den Prüfstand. Das scheinbar klare und benennbare Bild der Wirklichkeit kippt in diesen Holzschnitten ins Absurde und verlangt vom Betrachter eine eigene Stellungnahme. Die Holzschnitte hat Folmer aus 8 mm dünnem Sperrholz herausgearbeitet. Das preiswerte und brüchige Material birgt das ständige Risiko, mit einem zu starken Schnitt die Platte zu zerschneiden - auch das ein Bild für die Fragilität der Weit und der Szenarien, die Folmer vorführt. Folmer nutzt die ganze malerische Bandbreite des modernen Holzschnittes und bezieht bewusst populäre Ausdrucksformen, wie z .B. aus dem Comic, mit ein. (E M.F)


Mit Zwergen groß geworden

Zu Wolfgang Folmers Arbeiten der neunziger Jahre

Katalogtext von Beatrix Rey

In Holunderbüschen, sagt man, wohnen Zwerge. Sie tummeln sich dort mit manch anderen märchenhaften Gestalten, sprechen zuweilen die Menschen an. Aber wie kommen die Zwerge von dort in jene Kaserne, die die Nazis bauten? Die Eberhard - Ludwig - Kaserne im Westen von Ludwigsburg liegt inmitten eines Industriegebietes, keine Holunderbüsche weit und breit. Auch sonst erinnert nichts an eine märchenhaft phantastische Welt. In der Kaserne befindet sich das Zollamt, die Hundestaffel der Polizei, die Kreisergänzungsbücherei und ein griechisches Lyzeum. Im Dachgeschoss der Kaserne richtet sich Wolfgang Folmer 1996 neben anderen Künstlern sein Atelier ein. Er legt Wasserleitungen, montiert Lichter, aber die Heizmöglichkeiten bleiben dürftig. Das kalte Dachgeschoss war einst nur für soldatische Leibesübungen gedacht. Die verbliebenen Piktogramme an den Wänden erinnern an einen Trimm - dich - Pfad. Aber Folmer hat anderes vor, zieht im Winter zwei Skianzüge übereinander und zeichnet mit laufender Nase. Der dritte Winter ist besonders kalt. Bisher hat Folmer vorgegebene Bildwelten umgepflügt und äußere Gegenständlichkeit beackert. In diesem Winter wendet er sich seiner inneren Gegenständlichkeit zu. Schwungvoll wagt er sich an große Formate: Kohlezeichnungen und bald auch Pastelle. Eine Fülle innerer Bilder treibt ihn. Bilder der Kindheit und Jugend mischen sich mit den Bildern der gegenwärtigen Kriegsschauplätze. Das Kind Wolfgang Folmer überragt manche Gartenzwerge seines Vaters nur um wenige Zentimeter. Aug in Auge steht er ihnen gegenüber. Die Zwergesaugen wachen über die Rosenzucht des Vaters. Allzeit wachsam beobachten sie das Kind. Diese Fernrohre des väterlichen Blickes rufen: "Berühre die Rosen nicht"! Vor den Dornen hätte das Kind keine Angst, aber vor den Augen des Zwerges fürchtet es sich. Der Wächter - Zwerg ist eine Kinderscheuche, die sehen, womöglich auch sprechen kann und vielleicht zum Verräter wird. Der Zwerg ist ein wenig kleiner als das Kind, aber dank seiner beobachtenden Augen mit einer immensen Macht ausgestattet, mit einem großen Geheimnis. Mit dem spielt man nicht. Zwerge wohnen natürlich vor allem im Märchen. Das Kind Wolfgang Folmer hört die Märchen gern von der Mutter, obwohl der Junge sich in dieser oft grausamen Märchenwelt nicht wohl fühlt. Für den Märchengarten in Saarbrücken wird er fein angezogen, wie zur Kirche. Der Knabe betritt den Garten mit dem feierlichen Ernst der festlichen Kleidung. Er schreitet durch die fremde aufgestellte Welt. Überlebensgroß schauen Schneewittchens Zwerge auf den kleinen Wolfgang herab. Nur über die Pilze kann er gerade noch hinwegsehen. Nichts darf er anfassen, nichts verändern. Er tastet sich mit den Augen durch die stille, bunte Figurenwelt. Sie ist voller Geheimnisse. Er sieht, fühlt und fürchtet, dass es mehr darüber zu wissen gibt, als er weiß. Von den Erwachsenen so seltsam ernst genommen gibt ihm diese aufgestellte Zwergeswelt Rätsel auf. Mit seiner Kindheit lässt Folmer die Welt des Märchengartens sowie die feierliche Grausamkeit der Zwerge erst einmal hinter sich. Doch aufgestellte phantastische Welten gibt es auch für Erwachsene jede Menge - zumindest in Folmers Heimat. Er entdeckt diese Eigenart seiner saarländisch-lothringischen Wurzeln aus dem Abstand des Studienortes. In den Semesterferien kommt er und fängt sie mit dem Fotoapparat ein. Zunächst sind da die Sofas der Nachbarin "es Otto, Anna": dort türmen sich Teddys, Stofftiere, Puppen und Porzellanfiguren neben Sofakissen und dem in Samt gekleideten Telefon, verdeckt von Strohblumengestecken und dicht überhängt mit Puzzlespielen in Zierleisten gefasst. Eine barock wuchernde Fülle auf engstem Innen-Raum. Das Pendant im Außen-Raum spiegelt sich in der Verkaufsausstellung eines Baumarktes. Was dort an klassischen Formen, Säulen, Treppen, Becken und Figuren aus weißem Plastik angeboten wird, stellen sich die Leute in den Vorgarten. Das immer gleiche Formen-Repertoire variiert nur durch die Auswahl und die Anordnung zu neuen Vorgarten-Bildern: oft genug furchtbar unpassende, beziehungs- und seelenlose, zusammengestückelte Bilder. Folmer beschäftigt sich mit diesem versponnenen Alltags-Spleen seiner Heimat. Hier im Grenzland gibt es seltsame Überlagerungen, Anhäufungen, Fremdheiten der Dinge und Figuren. Er findet jede Menge versuchte Ordnungssysteme. Folmer entdeckt: man kann alles nehmen, es ist eine Fülle da, man kann alles umdeuten ineinander projizieren und beseelen. In der Zusammenstellung und Anordnung liegt die Aussage. Solches Denken zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, durch die verschiedensten Arbeitstechniken. In seiner Heimat prägte die Stahlindustrie das Bild. Die Förderanlagen der Gruben und die Hochöfen der Hütten wirken wie riesige, unheimliche Tiere, die auf dem Boden schnüffeln, abends umspannt von einem phantastisch roten Himmel, dem feurigen Wiederschein der Hochöfen. In der lothringischen Tellerlandschaft sitzen einzelne Baumgruppen, Haufendörfer oder Feldherrenhügel wie auf dem Präsentierteller. Diese Landschaft ist zur Aufstellung von Heeren - zum Kriegführen - bestens geeignet. Die endlosen Reihen aufgestellter Soldatenkreuze bei Verdun zeugen von jenem vernichtenden Höllenfeuer. Schon früh beschäftigt Folmer die Grausamkeit der Menschen im Krieg. Immer wieder sucht er das nahe seiner Heimat gelegene Verdun auf. Er besucht das Kriegsmuseum und verarbeitet später die dort entstandenen Fotos und Videos in seiner Kunst. Die Granaten aus den Vitrinen von Verdun tauchen mit den inneren Bildern des Künstlers auf großen Kohlezeichnungen auf: in der Eberhard - Ludwig - Kaserne, in jenem dritten kalten Winter. Sie treffen dort auf die Zwerge aus Folmers Kindheit und verbinden sich seltsam leicht mit diesen kleinen Ungeheuern und ihren rätselhaften Drohungen. Die Zwerge halten Einzug in Folmers Bilderwelt. Mit diesen Figuren findet er eine stille Sprache, die Ungeheuerlichkeiten der Erwachsenenwelt, die Grausamkeiten und die großen Rätsel unserer Zeit auszusprechen. In die Zwergwelt projiziert Folmer sein Weltverständnis, seine Versuchs - Anordnungen von Weltverständnis. Im bildnerischen Spiel mit den Zwergen, spielt er die Welt nach, um sie sich zu erklären, um sie zu begreifen: die gegenwärtigen Kriege vor dem Hintergrund der vergangenen. Mit Krieg hat sich auch der große lothringische Grafiker Jacques Callot auseinandergesetzt, im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts arbeitend. Auf seinen Zeichnungen drängen sich eine Fülle von Gegenständen und Figuren, eine Fülle, die wir bei Folmer eher auf vielen Blättern verteilt finden. Lothringisch-saarländische Verwandtschaft zwischen den beiden Grafikern findet sich insofern, da man einige von E.T.A. Hoffmanns Bemerkungen über Jacques Callot genauso gut auf Folmer anwenden kann: so attestiert der Dichter Callot "Zauber einer überregen Phantasie", wundert sich, dass ihm Callots "Gestalten, oft nur durch ein paar kühne Striche angedeutet, nicht aus dem Sinn" kämen und stellt fest, dass bei Callot unter dem "Schleier der Skurrilität geheime Andeutungen verborgen" lägen. (s. E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier) Ausgehend von den ersten Zwergbildern entstehen bei Folmer endlose Variationen und zusammenhängende Bildfolgen, indem er seine Kohlezeichnungen auf leere Blätter überträgt. Die Originalzeichnung lässt sich einfach auf das neue Blatt abreiben und findet sich dort als blasse Zeichnung wieder. Auf dieser Grundlage können die Motive nun verändert werden: Teile werden weggelassen, neue hinzugefügt. Bei dieser Kohle - Abklatsch - Technik entsteht das Bild aus dem Bild, welches aus einem wieder anderen Bild entstanden ist usw. ... Aus der Fülle des Bildmaterials und der Bildmotive schöpfend gelingt es Folmer, der sich bisher hauptsächlich als Zeichner verstand, Themen farbig aufzugreifen und auszuarbeiten. Ungewöhnlich große Pastelle entstehen in Farben einer phantastischen Welt. Ein besonderes Braun kommt zum Einsatz: eine billige Pastellkreide aus tonartigem Material erschafft Bäume und Wälder, in denen längst nicht mehr nur Zwerge leben, sondern allerhand märchenhafte Wesen. Aus dem Holunderbusch werden Holderbäume, Holderwälder und daraus hölzernes Baumaterial, aus dem wieder neue Figuren gezimmert werden. Die Zwerge mutieren teils in Pinocchiofiguren, die mit ihren aufgesteckten langen Nasen hölzern durch die Bilder stolpern. Eine weibliche Variante kommt hinzu: die Holzstock-Baumfrau hat drei Brustpaare und teils eine Pinocchionase. In ihrer breitbeinig sitzenden Haltung kippelt sie und findet auch mit ihren abgesägten Armen und Beinen keinen rechten Halt. Von den vorgefundenen, äußerlich aufgestellten Welten sucht Folmer den Weg zu seinen inneren ständig neu entstehenden Fantasiestücken. Weit davon entfernt, etablierte Einsichten und vorgefertigte Ideen in Zeichnungen zu illustrieren, zeichnet er Gedanken, Ideen, Eindrücke, die durch ihn hindurch gegangen sind und sich so verändert haben, phantastisch geworden sind und auftauchen, wenn ihre Zeit reif ist. Die von Folmer geschaffenen phantastischen Welten haben eine Kindheit, eine Heimat, Nachbarn und Vorfahren und doch erschöpfen sie sich nicht in diesen.



Der Sturm Lothar und Folmers Baumstämme

Katalogtext von Beatrix Rey

Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft wie ein Vers im Psalter, ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Rainer Maria Rilke*

* aus: Buch der Bilder, II. Buch, 2. Teil: "Der Schauende" 2. Strophe

Rhythmisch klangvoll fegt der Sturm hier die Zeilen entlang. Nur Rilkes Bild vom "Vers im Psalter" ist uns heute fremd. Gut 100 Jahre nach Niederschrift des Gedichtes erinnern wir uns kaum noch an biblische Zeiten, wenn wir eine Sturmlandschaft sehen. Längst wissen wir, dass unsere Stürme und Flutkatastrophen selbstverschuldet sind. Beim Gestalten und Umgestalten der Natur arbeitet der alttestamentliche Psalter-Gott nicht mehr alleine. Wir haben ihm einen Teil seiner Arbeit abgenommen. Die Wetterkapriolen häufen sich. Sie stellen viele Sicherheiten in Frage. Der Wald und unsere Zeit wird umgestaltet. 2001 gestaltet der Sturm Lothar die deutschen Wälder um. Überall ausgestreute Mikadospiele: auch die kräftigen Stämme nicht nur die kranken liegen da. Der Name Lothar ist mittelhochdeutsch und heißt frei übersetzt: "lautes Heer". Und tatsächlich sehen die Wälder wie Schlachtfelder aus, über die ein lautes Heer dröhnte und kräftige Krieger hinter sich liegen ließ. Auch am Neckarufer bei Marbach liegen einige schwere Baumstämme auf den Wiesen, als Folmer dorthin zum Bildhauersymposium eingeladen wird. Die herumliegenden Baumstämme sprechen ihn an, mit ihnen will er arbeiten, sie gestalten, er weiß noch nicht wie. Zeichne einen Baum, zeichne einen Menschen. Kaum ausgesprochen entstehen Bilder in unseren Köpfen. Aber die Bäume und die Menschen stehen, in unseren Köpfen und auf unseren Bildern stehen sie. Wer beschäftigt sich schon mit den Liegenden? Manchmal aber liegen sie auch, die Menschen und die Bäume: bei Krankheit, Tod und Geburt. Dann werden sie umgestaltet. Menschen liegen auch beim Lieben. Der Liebes-Sturm, ein Umgestalter. In seiner Kindheit war Folmer viel mit dem Beil unterwegs. Er streunte mit seinen Geschwistern und anderen Kindern am Grenzfluss zu Frankreich herum und fällte junge Akazien. Die Kinder bauten daraus Baumhäuser und wehrhafte Burgen. Sie schätzten den geraden Wuchs der Akazien, die astlosen Stämme waren gutes Baumaterial. Von zu Hause kannte Folmer nichts anderes, sein Elternhaus wurde jahrelang umgebaut, war immer eine Baustelle. Bäume, ein gutes Baumaterial. Ja, aber nicht nur das. Folmer hatte durchaus auch Sinn für die lebenden Bäume. Im Wald stellte er sich gerne nahe an sie heran, spürte mit der Hand ihre Rinde oder umarmte sie, um eine Weile die aufsteigende Lebenskraft zu fühlen. Er sah auch kranke Bäume mit freigelegten Rinden und entdeckte die Fraßspuren der Larven von Borkenkäfern. Diese Futterwege der kleinen Tiere faszinierten Folmer als Zeichnungen. Später fotografierte er sie, machte Frottagen und Drucke davon. Solche Borkenkäfer - Zeichnungen sieht Folmer nun auch in Marbach auf den liegenden Stämmen. Und so fängt es an. Folmer entschließt sich, diesmal selbst auf den Stämmen zu zeichnen. Dazu muss er zunächst die Rinde entfernen, um dahin zu kommen, wo es auch den Larven am besten gefällt, wo der Stamm schön weich und glatt ist. Folmer stößt, hebelt und zieht die Rinde weg. Zuerst legt er nur kleine Stellen frei und schneidet die ersten Zeichnungen in den Stamm. Bald geht ihm der Platz aus und er zieht größere Streifen Rinde ab. Die kahlen Stämme und daneben die Rinde: das liegt jetzt da wie geschälte Früchte auf einem Küchentisch. Das Messer gleitet weiter dahin, gestaltet immer neue Zeichnungen. Ein gefundenes Fressen, so viel Platz für Holzschnitte. Die Bildideen fließen aus ihm heraus, als habe er einen Bleistift in der Hand. Dann will Folmer die Holzschnitte abdrucken, stößt auf Schwierigkeiten, denn die gewölbte, bucklige Oberfläche lässt sich nicht so einfach abwalzen. Das Papier reißt. Er gibt nicht auf, entwickelt neue Techniken mit speziellem angefeuchtetem Papier. Es klappt. Die Holzschnitte sind als Drucke gesichert. Da zögert Folmer nicht, die Zeichnungen vom Stamm zu schälen. Der Stamm wird um einen Jahresring dünner und Folmer hat wieder Platz für neue Holzschnitte. Der Vorgang wird sich noch ein paar Mal wiederholen: mehr und mehr Holzschnitte auf immer dünner werdenden Stämmen. Der Umgang mit Baumstämmen bekommt seit Marbach einen großen Stellenwert in Folmers Werk. Schon zuvor entwickelte er eine Vorliebe zur Projektarbeit. Eine Einteilung der künstlerischen Schaffensphasen nach Orten war bei Folmer seit jeher sinnfällig. Immer wieder arbeitete er an unterschiedlichen Orten intensiv bis exzessiv ein paar Wochen oder Monate lang. Folmer lässt gerne zu, dass seine Arbeit von äußeren Gegebenheiten beeinflusst wird. Seine weiteren Baumarbeiten sind immer Vor - Ort - Projekte. Betrachter von Folmers Baumstämmen fragen immer wieder, ob diese nicht später aufgestellt würden. Aber nein, sie bleiben liegen. Der Künstler mag den Widerstand und die Statik des liegenden Kolosses. Gleichwertig liegen die Motive nebeneinander, sie können von links nach rechts und umgekehrt gelesen werden. Man kann aber auch unvermittelt über den Stamm steigen und auf der anderen Seite weiterlesen. Dem Liegenden nähert man sich anders: man lässt sich anstecken von der Ruhe, man sucht keine Konfrontation, keine Konkurrenz wie zu etwas Gegenüberstehendem. Behutsam und fragend nähert man sich Liegenden, wie man an das Bett eines Menschen tritt, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Man bückt sich vielleicht, aber nicht untertänig, sondern eher forschenden Sinnes. Ein Gespür entsteht für die unausgesprochenen und die unaussprechbaren Dinge. Kein Baum wurde je für Folmer gefällt. Er bekam die vom Sturm gefällten, die vom Förster aussortierten, die unbrauchbaren, die vom Borkenkäfer zerfressenen Bäume. Oder er bekam den Baum, der die Grundfesten eines Hauses bedrohte und schließlich weichen musste. Keine Siegerbäume also. Folmer erhebt ihr Liegen auf kleine Pflöcke. Er begleitet ihr Sterben, er entkleidet sie, befreit sie von der Rinde, er beschleunigt ihre Auflösung und gibt ihnen doch etwas Zeit und Beachtung zurück. Folmer gestaltet das, was er vorfindet. Er geht auf Angebote ein. Dass es gerade aussortierte Baumstämme sind, dem misst er keine übermäßige Bedeutung zu. Er sieht sich weder als Umweltapostel noch als Samariter oder Weltverbesserer. Und doch ist es kein Zufall, dass Folmer ausgerechnet nach diesen vom Sturm bezwungenen Bäumen greift. Als aufmerksamer Beobachter des Weltgeschehens ist er betroffen von den verschiedensten stürmischen und katastrophalen Veränderungen, dem Verlust von Sicherheiten und unberührter Natur. Der Bestand der Natur ist heute ebenso gefährdet wie persönliche Anschaffungen: ob eine Flutkatastrophe das neu gebaute Haus zerstört oder ein Computervirus das Betriebssystem angreift. Wer neue Krankheitsviren besiegen will, jagt einem Phantom nach, da sie sich verändern, ihre Formen, ihr Verhalten und ihre Angriffstechniken. Ähnlich aussichtslos scheint der Kampf gegen Terroristen. Die Bombe kann überall losgehen, jeder kann betroffen sein. Rückzug ist kaum möglich. Elfenbeintürme gibt es nicht mehr. Folmers Betroffenheit spiegelt sich in seiner Bilderwelt. Figuren hängen kopfüber an dünnen Fäden. Die Sonne und ein Baum sind notdürftig aus Dachlatten gezimmert. Auf einem Auto reitet ein Dreirad. Die langen Ohren des Hasen schweben abgesägt über ihm. Der Hund hat sich das Maul mit hot dog vollgestopft. Auf dem Tisch brennt eine Grasnarbe. Skurrile Traumpoesie, in der das Heitere dem Alpdruck Parole bieten kann und das Komische dem Tragischen den Wind aus den Segeln nimmt Stürme des Unbewussten drängen in Folmers Bilder. Sie rütteln an Sehgewohnheiten und scheinbar fest Gefügtem. Verwehte Teile und Figuren finden sich zu neuen Ordnungen, denen Folmer eine eigene Gesetzmäßigkeit gibt. Stürme von Ideen jagen durch seine Hand auf die Stämme: eine sprudelnde Fantasie, die sich einer kindlichen Darstellungsweise bedient. Mit holzschnittartiger Vereinfachung sucht er das Lebensgefühl in einer immer komplizierter werdenden Welt zu fassen. Primitive Figuren werden in komplexe Zusammenhänge gestellt. Die Wiederkehr der mutierten Figuren, die Mühelosigkeit und Leichtigkeit der Bildfindungen entpuppt sich als Virtuosität. Das Leichte der Bilderwelt findet sich auf der Schwere der Stämme. Das Leichte ist schwer.


ARS SOLVENDI - die Kunst des Loslassens

Eröffnungsrede von Helmut John

Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, darin du mich so eilen siehst. Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde, ich bin nur einer meiner vielen Munde und jener, welcher sich am frühsten schließt. Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen, die sich nur schlecht aneinander gewöhnen: denn der Ton Tod will sich erhöhn Aber im dunklen Intervall versöhnen, sich beide zitternd. Und das Lied bleibt schön. Rainer Maria Rilke* *aus: Das Stundenbuch, I. Buch: Das Buch vom mönchischen Leben
Ich hatte das ergreifende Erlebnis, den Kapellenraum leer zu sehen: nur mit dem frisch geschälten Stamm, der in der Dämmerung regelrecht leuchtete mit einer unglaublichen Präsenz und Strahlkraft. Das Schlagwort "Weniger ist mehr" traf hier nicht tief genug, das Wenige war alles! Wenn Wolfgang Folmer diesen Stamm bearbeitet, wird er sich am Ende daran messen müssen, was war. Darum geht es hier: die Energie dieses gestürzten Kolosses aufzunehmen, sie weiterzutragen und umzuwandeln in etwas Neues. Das geschieht in den folgenden 2 Wochen. Und heute? Was wird Ihnen heute geboten? Sie sollen auf ihre Weise einen Nullpunkt erleben. Wir bieten Ihnen das Unerwartete, das Ungewohnte. Wir wissen selbst nicht, was auf uns zukommt. Wir vertrauen einem Künstler. Und wir nehmen eine Herausforderung an. Das Ungewohnte ist: Sie erwarten eine Vernissage und finden keine Bildwerke. Der Künstler früher hatte sein fertiges Bild mit einem Schlussfirnis, einem vernis moux überzogen, dann wurde das Ateliergeheimnis der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir haben hier nichts Fertiges, hier wird erst angefangen. In unserer Einladung steht nicht Vernissage, sondern ausdrücklich: Eröffnung! Eröffnet wird ein Kunstprojekt. Wir haben es "ars solvendi" genannt. Das darf ich erläutern. Die Hospizgruppe Weil der Stadt feiert heuer ihr 10-jähriges Bestehen. Die Leiterinnen Frau Dietz und jetzt Frau Bartl kamen auf das Kunstforum zu mit der Frage, ob Kunst etwas zu sagen habe - zum Thema Tod, terben... Das ist eine Herausforderung! - was geht einem Künstler oder Kunsthistoriker alles durch den Kopf bei diesem Thema? Alle Anfänge von Architektur - und man spricht von Architektur als der Mutter aller Künste - sind im Totenkult zu finden. Christos M. Joachimides schreibt im Katalog zur Ausstellung "Afrika" (Berlin, 1998): "Die Kunst ... hat über ihre gesamte Geschichte hinweg 2 zentrale Themen, Tod und Fruchtbarkeit". Er bezieht sich auf Afrika und einen Zeitraum von 5000 Jahren, aber seine Aussage kann mit Abstrichen auf die gesamte Kunstgeschichte angewendet werden. In der römischen Antike sollten Mumienporträts aus Wachs, erstaunlich realistisch, den Toten helfen, im Jenseits ihre Gestalt wiederzufinden. Das Mittelalter und seine Maler sahen den Tod als Erlösung vom irdischen Leben und als Wegbereiter zu ewiger Glückseligkeit. Und sogar die so sehr dem Irdischen zugewandte Malerei des Barock vergaß nicht die Endlichkeit des süßen Lebens und schmuggelte selbst ins saftigste Stillleben immer eine kleine symbolische Anspielung wie die gerade verlöschende Kerze, ein umgefallenes Weinglas - alles im Sinne eines "memento mori", denke an den Tod! "Memento mori", das war dann auch - drastisch und daher unangemessen - zunächst der Arbeitstitel der vom Kunstforum ins Auge gefassten Themenausstellung. Künstler sollten angeschrieben werden, die ihre Aussagen zum Thema umsetzen würden. Unsere letzte Themenausstellung "Masken" hätte man komplett übernehmen können, dazu die durchgestrichenen Köpfe von Arnulf Rainer, eine schwarze Tafel von Felix Schlenker, ausgedrückte Tuben-Gestalten von Jürgen Brodwolf ... in diesem Zusammenhang eher peinlich. Die angefragten Künstler hielten sich Gott sei Dank bedeckt, bis auf den einen, und der hatte ein Gesamtkonzept. Dieses ungewöhnliche Konzept und die ungewöhnliche Person, die dahinter steht, gewann unser Vertrauen. Vor einem Jahr habe ich Wolfgang Folmer kennen gelernt. Eher zufällig kam ich von einem benachbarten Atelier eines anderen Künstlers auch in seine Räume. Er war dabei, seine Bilder per Computer zu archivieren: große Pastellzeichnungen. - Ich war sehr irritiert und versuchte sie mir einzuordnen: in der Farbe poppig-frech bis sublimverhalten, von der Machart her ein Mix von Andy Duck bis Donald Warhol ( ... Katalogisierungssucht) mit Visionen zwischen Marc Ernst und Max Chagall - eine sehr eigene Mischung! Das Eigenartigste aber war die Fülle, die unbeschreibliche Vielzahl der Arbeiten, wo einzelne Bilder sich mir übereinander schoben und zu einem Ganzen wurden. Ein ähnlicher Eindruck von Fülle bei meiner 2. Begegnung mit Wolfgang Folmer: beim Kunstverein Schwäbisch-Hall, diesmal an einem heißen Sommertag. Die Vernissage der Doppelausstellung mit Rolf Nikel beschränkte sich auf je 4 Bilder in der Eingangshalle, während der 4 Wochen "Ausstellung" aber füllte sich daneben und darüber der riesige Fachwerkbau über alle Stockwerke bis unter das Dach mit Kohlezeichnungen, die vor Ort angefertigt wurden. Imponierend wieder die Folge: Bild zu Bild sich weiterentwickelnd. Erstaunlich auch das Bemühen von Wolfgang, seine angelernte Kunstfertigkeit bewusst abzustreifen mittels z.T. drolliger Versuche: mit der ungeschickteren linken Hand zeichnen oder den Entstehungsprozess nicht direkt auf dem Papier, sondern via Kamera auf dem Monitor verfolgen, manchmal sogar blind zeichnen. Kunstfertigkeit, einmal Gelerntes, Gefundenes soll nicht neue Impulse in starre Formen drängen dürfen. Diese distanzierte Haltung zu starren Ergebnissen zeichnet schon seine frühen Arbeiten aus ... (Früh muss man dabei relativ sehen: Wolfgang Folmer kam erst über Umwege zur Kunst. In seiner Vita auf der Einladungskarte übergeht er seinen ersten Beruf als Wagenmeister, den er nach langer Ausbildung nur kurze Zeit ausübte. Er gab eine Beamtenlaufbahn bei der Bundesbahn auf, mit 25 Jahren begann er seine künstlerische Ausbildung, war schließlich Meisterschüler von Rudolf Schoofs an der Kunstakademie in Stuttgart.) In seinem Werkbüchlein "Grafische Entwicklungsarbeit" von 1994 zeigt er Zeichnungen, die spielerisch offen angelegt sind: ein fester Wissensschatz der Kulturgeschichte wird bruchstückhaft dargestellt, kombiniert oder konterkariert mit Hightech-Versatzstücken. Im Vorwort zu diesem Werkbuch ergründet Franz-Josef van der Grinten die Beweggründe zur Arbeitsweise Folmers: " ...aus dem Wissen, dass in der Dynamik des Seins nichts wirklich statischen Bestand haben kann, dass aber nichts, was war, wirklich aufhören kann zu sein, vertieft sich Wolfgang Folmer in die Erscheinungen der Welt ...". ... Wissen, ... dass nichts ... Bestand haben ... nichts ... aufhören kann. Da sind wir wieder bei der Herausforderung am Anfang, beim Thema Leben und Tod. Wenn ich weiß, dass Energie nicht verloren gehen kann, fällt es mir leicht, loszulassen, im richtigen Augenblick. ARS SOLVENDI - die Kunst des Loslassens - besteht in dem Gespür und dem Mut, wenn genügend Kraft aufgebaut oder verbraucht ist, für einen neuen Schritt bereit zu sein. Ich bewundere den Schritt von Wolfgang, den alten Beruf aufgegeben zu haben und einer Berufung nachgegangen zu sein. Es ist beruhigend, zu erfahren, dass der Tod ein Tor für das nächste große Abenteuer sein kann. Und ich bin neugierig, wie sich dieser Ort verwandeln wird. Vom bearbeiteten Stamm will Wolfgang Folmer Holzdrucke machen, die aber nicht zur Vervielfältigung gedacht sind, sondern als Unikate. Wolfgang Folmer wird nach jedem Druck den Stamm wieder glätten, sich vom Erarbeiteten lösen, neu beginnen. Das Alte wird im Neuen nachschwingen, das Neue wird die Energie des Alten auf seine Weise weitertragen. Wolfgang wünsche ich gute Arbeit in konzentrierter Atmosphäre. Den Besuchern danke ich für ihre Aufmerksamkeit und ihr Vertrauen in diese Arbeit.




Wie Papier zu Holz wird - oder: Warum Pinocchio eine Marionette bleiben darf

Bleistift- und Buntstiftzeichnunge

Katalogtext von Dorothee Götte-Heiss

Es beginnt wie fast immer mit Besessenheit, mit der im Kopf laut hämmernden Idee, sich selbst ein Gegenüber zu schaffen. In Ton geknetet, in Verse gepackt, aus Steinblöcken gehauen, hastig aufs Papier gebannt: die Kreatur ist fleischgewordene Idee, mal flüchtig und verwerflich, mal vital und selbstbestimmend. Die Kreatur namens Pinocchio, das gewünschte und selbstgeschnitzte Kind aus Holz, gerät, naiven ungetrübten Sinnes und fern vom Schöpfervater, in eine gefährliche Welt voller Schlitzohren und Verlockungen. Unbegreiflich bleiben seinem Holzkopf die Regeln und Gesetze. Er muss sich - glücklicherweise von guten Mächten wunderbar begleitet - durch einen abenteuerlichen Dschungel von Anfechtungen und Bewährungsproben schlagen, um am Ende - wie jeder echte Held - als Lohn für wahre moralische Läuterung das kostbarste Geschenk zu erhalten: die Verwandlung in einen Menschen aus Fleisch und Blut. Wolfgang Folmer alias Meister Gepetto lässt die Puppen tanzen, fängt sie mit dem Stift fast mit einer einzigen sicheren Umrisslinie auf Papier ein, dreht alle beweglichen Glieder, füllt sie mit einer hölzernen Bleistiftmaserung, stellt sie in einer bizarr unzusammenhängenden Welt der Dinge auf den Kopf, verwandelt die Holzfigur in einen leibhaftigen Menschen - und wieder zurück. Die dem Betrachter aus Kinderbuchtagen vertraute und daher nicht ganz zufällig fokussierte Marionette führt allerdings zwischen den spukhaften rumpflosen Torsi, den auf Umrisslinien reduzierten Aktskizzen, den unmaßstäblich und bedrohlich vergrößerten Haustieren kein formales oder inhaltliches Heldenleben. Beinahe zwanghaft vertreiben Bleistift (und gegebenenfalls Buntstift bzw. Ölkreide) jeglichen szenischen Plauderton aus den Einzelblättern, indem Figuren sich rein zufällig in formsinnigen Linien überschneiden oder tangieren, nicht aber sich in Wirklichkeit berühren oder miteinander kommunizieren. Auf dem linken Bild der gegenüberliegenden Seite beispielsweise werden zwei eigenständige, in anderen Blättern variierte Figuren- bzw. Gegenstandsarrangements wie Transparentpapiere übereinander geschoben und so zwei zeichnerische, nicht narrative (!) Handlungsebenen miteinander fusioniert: Auf dem klar zentralperspektivisch konstruierten, farbig schachbrettartig gekachelten Raum wirken die papierweißen, nicht spezifizierbaren "Untiere" und Architekturbruchstücke wie aufgeklebt. Auf dieses Bild wird eine transparente Folie aufgelegt und dabei die darauf gezeichneten Figuren durch die erste Zeichenebene per Zufallsprinzip mit Farbe gefüllt. Auf den Kopf gestellt und schon dadurch jeglichem bildlichem Erzählzusammenhang entzogen, erscheinen Zeichnungen von Jungen und marionettenhaften Puppen, die hier (mutwillig) als Einzelstadien aus der Metamorphose Pinocchios gelesen werden: Pinocchio als ausdruckslose Holzpuppe in reduzierter Profilzeichnung, ein blickloser Junge aus "Fleisch und Blut" mit hängenden Schultern und ebenfalls im Profil, eine mit Pinocchioattributen gekennzeichnete hölzerne Gliederpuppe, den Mund geöffnet, schreiend (?), wie im freien Fall die Arme geöffnet, die mehrgliedrigen Beine und Füße schräg nach oben zeigend, ohne Stand - wobei natürlich genau genommen jeglicher Handlungs- oder Bewegungsimpuls zwangsläufig vom Schauenden wild hinzuphantasiert wird. Ist der ebenfalls offensichtlich aus Fleisch und Blut bestehende Junge mit Zipfelmütze eine Illustration des verwandelten Pinocchios? Berechtigte Zweifel scheinen erwünscht zu sein, denn kaum hat der Vollständigkeitsmechanismus des menschlichen Verstandes einen Zusammenhang erpuzzelt, da bringt eine bewusst naiv gezeichnete weibliche Zwergenfigur mit überproportional großem Kopf und taillelos quadratischem Rumpf, offensichtlich einer völlig anderen Stilkategorie angehörend, Unruhe ins vermeintliche Ensemble. Der Baumstamm, dieser ungewöhnliche Druckstock, in den ähnliche Zeichnungen eingeritzt, geschnitten werden, um dann im letzten Schaffensstadium als Druck wieder auf Papier abgebildet zu werden, ist in den Zeichnungen stets mitgedacht, wobei diese nichts an künstlerischer Eigenständigkeit einbüßen. Im Gegenteil: Das beständige Thematisieren und Spielen mit den Materialien des künstlerischen Prozesses eröffnet schier unendliche Welten der zeichnerischen Virtuosität, in denen entstofflichte oder mit artfremder Materie gefüllte Dinge, Figuren und Lebewesen für den Betrachter zu ständig wechselnden, teils befremdlichen, teils witzigen Vexierbildern werden. Figürliche Darstellung wie Akte, Tiere, Puppen oder disproportionierte Phantasiegestalten zeichnet Folmer mit wenigen Linien, ohne illusionistische Schraffur (keine Plastizität, Haarschopflinien ohne Andeutung der haarigen Substanz, Augen ohne Zeichnung der Iris und/oder Pupille usw.), enthebt sie so ihrer eigentlichen Materie und verleiht ihnen teilweise ein neues hölzernes Innenleben, indem die Bleistift- und Buntstiftzeichnungen Holzmaserung, gegebenfalls zusätzlich durch monochrome Farbe unterstützt, als alleinige Binnenzeichnung fungiert. Daneben finden sich aber auch viele "materialgerechte" Holzobjekte wie Stühle, Hocker, Kommoden oder Bäume - letzterer allerdings durchweg blattlos, comichaft oder als Klötzchentanne aus dem Holzbaukasten. Ihre beständige beruhigende Gegenwart schafft eine vordergründige Plausibilität für das wahnwitzige Verwandlungsspiel, das Folmer mit den Elementen treibt: Wolkenstücke, geflügelte Wesen, Attribute des Elements Luft, schematische Wellenmäander und Ozeandampfer aus der Welt des Wassers und spitzige, grob "geschnitzte" Wiesenstücke und gezackte Schlangen, auf das Element Erde verweisend. Leicht ist man versucht, sich über allen artistischen Bleistiftspuk hinwegzusetzen, sich nur mit dem bildungsbürgerlich einleuchtenden Etikett des Surrealismus zu bewaffnen und dabei das Wesentliche zu übersehen: dass das Primat des Holzes die Regeln diktiert und den zaubernden Zeichenstift in die Schranken weist. Der auf dem Einzelblatt vermeintlich ungefiltert sprudelnde zeichnerische Bewusstseinsstrom erweist sich in der Zusammenschau mit Zeichnungen ähnlichen Figuren- und Formenvokabulars und erst recht verglichen mit den "Erzählfriesen" der Baumstämme als hart erarbeitete und sorgfältig konstruierte Traumwelt voller formaler Ironie und teils abgründiger, teils paradoxer Mehrdeutigkeit. Selbst die Schatten führen hier ein Eigenleben, überschneiden bzw. durchdringen sich und wachsen so zu undefinierbaren zweidimensionalen Gebilden zusammen - eine Art "Rorschachakrobatik", die zum Weiterphantasieren nötigt. Der Gleichwertung der Dimensionen entspricht die Gleichzeitigkeit, zuweilen auch Widersprüchlichkeit verschiedener Perspektiven in ein und demselben Bildzusammenhang: Auf einem aufsichtig dargestellten blauen Tisch, der in dem gekachelten Raum mit der rosafarbenen Holzwand offensichtlich keinen realen Stand findet, kopulieren fröhlich zwei streng ins Profil gedrehte, rote, holzgemaserte Hunde, während mit wenigen Strichen angedeutete fleischfarbene Frauenakte ebenfalls ohne Bodenhaftung fast tänzerisch sich in unterschiedliche Richtungen drehen, ohne in Blick- oder sonstigen Interaktionszusammenhang zu treten. Geerdet hingegen und auf dem Schachbrettboden unter dem Tisch zwanglos verteilt sind nostalgische Spielzeugfetische wie Kreisel, Flugzeug, Würfel, Becken schlagender, mechanischer Affe und Bauklötzchen. Diesem auf vielen Zeichnungen immer wieder neu variierten und arrangierten Arsenal perspektivisch zugeordnet erscheint ein ebenfalls mehrfach zitierter unterleibsloser Männertorso im Profil, der wie das Hundepaar und ein vergrößerter Spielzeugtannenbaum auf einem rosa Stuhl durch eine farbig unterlegte Holzmaserung ausgefüllt ist. Dinge und Figuren, oft mit der Ästhetik der Kinderbuchillustration kokettierend oder mit kunsthistorischen Versatzstücken wie Architekturstücken à la De Chirico oder Picassohafter Simplizität jonglierend, tauchen in immer wieder neuen Kontexten und Kombinationen in den Zeichnungen auf und führen so ein beinahe protagonistenhaftes Eigenleben. Der Betrachter wird zwar seinem natürlichen Zwang narrative Stränge daraus zu flechten bewusst überlassen, er gerät aber buchstäblich auf den Holzweg, wenn er versucht, eine Art erzählerische Kohärenz aufzudecken und damit dem Künstler womöglich auf die Schliche zu kommen. Würde auf den Zeichnungen wirklich im ureigensten Sinne erzählt, dann bliebe das Figurenzitat ohne künstlerische Sublimation und wollte damit nichts anderes sein als das Original: pure, wenn auch gut gezeichnete, Illustration. Pinocchio wird auch als Fleischgewordener seine spitze, lange Nase nicht los. Seine moralische Läuterung wird uns erlassen und das Fatum, in der Welt der Menschen nur als Mensch Existenz berechtigt zu sein wird ebenso ad absurdum geführt wie die Herkunft der geflügelten, entmenschlichten oder erigierten Wesen verdächtig, ungeklärt und spannend bleibt.