Wirklichkeitsunruhe
Textbeitrag von Gunnar Schmidt, „lichterloh“, 2022
Galerie Palais Walderdorff
Das Sein in lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten stabilisiert die Gewissheit, am Morgen in derselben Seinssphäre zu erwachen, die man am Abend beim Schlafenlegen verlässt. Die Erwartung des Erwartbaren ist ein Zustand erfahrungslosen Glücks. Bricht etwas ein – Exotik, Unzugänglichkeit, Phantasieschaum, Leidenschaft –, droht Ambivalenz, denn nichts garantiert, dass aus der Begegnung mit der Unruhe etwas erwächst, das als gelungene Erfahrung verarbeitet werden kann, um ins Register der Beseelung oder des Wissens aufgenommen zu werden.
Ein Ding, ein Ort, eine Stimmung, eine Atmosphäre verweigern sich der Einordnung in das Lebensweltgefüge, lassen Gedanken und Empfindungen schwanken. Abwehr oder Verlegenheit oder Ratlosigkeit bedrängen dämonisch die Gelassenheit im Gewohnten.
1988 findet Wolfgang Folmer in einer stillgelegte Industriehalle ein abjektales Objekt, einen beschädigten, funktionslos gewordenen Stuhl. Folmer nimmt die Bruchstücke, fügt sie zu ungewohnten Kombinationen, hartes Licht schlägt darauf und zeichnet dramatische Schattenwürfe in den sandigen Boden. Der Stuhl ist ein Stuhl – ist ein Stuhl? Oder nichts als Material, Holz, Hyle, Anlass für das skulpturale Gestalten? Wie in luftleerer, menschenenteigneter Umwelt gefangen, erheben die Fotografie und die künstlerische Geste das Bruchstück zum Symbol ultimativer Verlassenheit. Die Bildwerdung potenziert die Sache zur Metapher. Ich erkenne ein erlegtes Tier ohne Kopf, ein Skelett ohne Fleisch, sehe ein Sinnbild der Niederschlagung. Angesichts der Zerbrechlichkeit und Vergeblichkeit kann den Betrachter Scham befallen: »Die Sonne strahlte auf die ekle Fäulnis nieder, / Die ihre Glut zu kochen schien, / Als gäbe hundertfach sie der Natur das wieder, / Dem einst sie eine Form verliehn.« So wie Baudelaire dem Kadaver eine poetische Sprache verleiht und implizit eine Poetik des Unheilen (oder Unheils?) entwirft, so vermag das unbedeutende, hässliche Sujet des Abfalls Grausamkeit darzustellen. Grausamkeit ist die Ohnmacht, sich nicht anrühren zu lassen.
Der Künstler lebt und arbeitet an der Kippstelle, wo die Lebenswelt befremdlich wird, wo die Kunst sie befremdet, wo es Erfüllungsverweigerung gibt. Der Stuhl, wie überhaupt Möbel beschäftigen Folmer in der Folgezeit, jene para-lebendigen Wesen, mit denen wir umgehen, kommunizieren, die sich an uns binden, von denen wir uns nur schwer zu trennen vermögen – Objekte des Liebens. In der Serie »Stuhl« (1989) erkenne ich den Wiedergänger aus der Industriebrache in der Version ungebrauchter Neuheit wieder. Im Atelier des Künstlers wird er zum Spielzeug, mit dem die Melancholie der trostlosen Verlorenheit in scheinbaren Leichtsinn, in Humor verwandelt wird. Sigmund Freud zufolge ist der Humor ein Beharren des Ich, »die Traumen der Außenwelt« nicht nahekommen zu lassen. Wenn Folmer drei Paare abgetragener Schuhe, die kunstvoll ineinandergesteckt sind, als ein raupenartiges Lebewesen über den Stuhl kriechen lässt oder Möhren als spitze Abwehrwaffen appliziert, dann ist trotz aller Stilisierung das Moment der Feindseligkeit angezeigt. Die surrealen Applikationen stehen antithetisch zum Starrsinn der Möbelarchitektur. Materialauswahl und Inszenierung verkörpern eine Dialektik: Sie erweitern einerseits die traditionelle Vorstellung von Skulptur, bestätigen andererseits die Gattungsprinzipien von Dynamik, Eleganz, Formgewinnung und Raumbestimmung. Die chronofotografische Darstellung dementiert allerdings das skulpturale Paradigma der Festigkeit; die Vergänglichkeit und Formungewissheit sind auch in der humorvollen Kombinatorik gegenwärtig. Das Widerspiel von ordnungssinniger Verfasstheit und kombinatorischer Frechheit inkorporiert mimetisch den Aspekt der Bedrohlichkeit. Scheint der Stuhl auch stoisch alles über sich ergehen zu lassen, das Unheimliche lauert in der Kontingenz möglicher Ausbrüche aus der Konstanz. Ist es der Künstler, der in seiner ihm historisch zugeschriebenen Rolle des Ungehorsamen das Wahrscheinliche mit Unwahrscheinlichem verfremdet, oder ist er das Medium der Dinge, die zuweilen mit dem Menschen in Zwietracht geraten?
Mit dem Gespür für die Doppelsinnigkeit der Dinge, die uns wärmen, ausdehnen, entlasten, tragen und gleichzeitig zu Fremdlingen werden können, die bedrängen, enteignen, Luft nehmen, weil sie übervoll von Sinn sind, tauchte Folmer 1990 in eine Lebenswelt ein, um dort in den Dingen Spuren oder Geister zu suchen. Zunächst ganz auf das Schauen bedacht, entdeckte er im Leben den Vorschein – oder ist es der Nachschein? – des Todes. Die Wohnung Frau Ottos ist wie eine chiffrierte Landschaft, in der nicht erzählte Geschichten und Geschichte verdichtet sind. Die übervolle Idyllenwelt aus Nippes, Puppen und Stofftieren korrespondiert mit der Möbelbehandlung des Künstlers, denn auch Frau Otto belegt Sessel, Sofa, Stühle und formt auf diese Weise surrealistische Arrangements: Übersinn-Möbel. Zu Abstellplätzen für Lebensersatzdinge umgedeutet, entsteht ein Atmosphärenrefugium. Der höhlenartigen Stoffwelt haftet Ungeheuerlichkeit an. Einerseits Ausdruck der Eigenweltgestaltung muss man andererseits im Selbsteinschluss die Gespensterbannung der Kriegszeit vermuten. Wo ehemals Trümmer herrschten, dort kompensieren Kuscheltier und florale Polstergarnitur den verletzten Traum vom weichen Leben. Die Künstlichkeit ist überwältigend und muss das moderne ästhetische Empfinden zutiefst berühren. Vermittelt durch das fotografische Abbild entsteht weniger ein Lebensraum als eine Szenografie, in der die Bewohnerin lediglich eine marginale Rolle spielt. Das Dingliche regiert alles, betört den Sehsinn. Als Bildbetrachter fühlt man sich fixiert von den vielen Knopfaugen, die wie im Verfolgungswahn Gegenwart in Permanenz bedeuten. Ydessa Hendeles, Künstlerin und Kuratorin, hat in ihrem Ausstellungsprojekt »Partners« (2003) 3000 von ihr zusammengefundene Vintage-Fotografien präsentiert, auf denen Teddybären in allen möglichen Lebenslagen erscheinen. Die Wucht der Bildfülle und des vervielfältigten Motivs verwandelte das Niedliche in ein Deckbild des Horrors; folgerichtig bezeichnete Hendeles ihr Projekt als »post-Holocaust document«. Frau Otto konfrontiert den Besucher ihrer Ausstellung auf ähnliche Weise – und Wolfgang Folmer muss von dem affektiven Nachleben der Dinge zutiefst beeindruckt gewesen sein, denn in der Folge entsteht eine Fotoreihe, die den Tod thematisiert. Beginnend im Stil des Dokumentarismus gruppiert er Bilder einer Sterbenden mit Bildern von vergehenden Dingen – halb tote Pflanzen, vergessene, abgenutzte und verstaubte Gebrauchsgegenstände. Folmer verändert dann jedoch sein Vorgehen und nimmt in der Dunkelkammer erste fototechnische Eingriffe am Material vor. Mit Hilfe von Mehrfach- und Negativbelichtungen entstehen transparente Gespenster und Unwirklichkeitsmilieus. Teils als fantastische Störungen des Realismusdispositivs, die an die Geisterfotografie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnern, teils als bildeinnehmende Gesamtverfremdung gelingen Formgestaltungen zwischen Collage und malerischem Eigensinn. Die Fotografie, die so unbarmherzig der Referenz auf die Wirklichkeit bedarf, wird durch die Werkzeuge der Lichtzeichnung und der chemischen Behandlung im Entwicklungsbad zu einem Medium der Sublimierung. Die Realitätsaspekte scheinen nur noch hinter der Bildoberfläche zu liegen; das Bild selbst wird zum Geist – des Künstlers.
Wo Auge war, wird Hand.
Man kann Folmer glauben, wenn er schreibt: »Ich versuchte, durch das künstlerische Handeln diesen scheinbar geordneten, heilen Welten, hinter denen sich in Wahrheit tiefe seelische Abgründe verbargen, das Bedrohliche zu nehmen.« Da die Wahrhaftigkeit des Realen schwer zu ertragen ist, tritt die Gegenwelt der Kunst auf den Plan, in der das Bedrohliche aufgehoben wird – wo es bewahrt und doch zu etwas anderem umgedeutet wird. Das neue Terrain expressiver Auslegung erzeugt unweigerlich auch sinnhafte Mehrleistungen. Die zunehmend von Kühnheit getragenen Übermalgesten erscheinen wie Befreiungszeichen vom Indexwert der Vorlagen; gleichzeitig wahren sie das Gewaltförmige des Ausstreichens. Der Doppelwert aus ludischer Weltabkehr und kraftvoller Realitätsbewältigung löst sich nicht auf.
Man sehe sich die Gruppe der fotografierten Kleinstskulpturen (1994) an, in denen Spielzeugfigürchen, Tortendekoration und Schneekugeln zu barockartigen Stillleben zusammengefunden haben. Die Feier des Kriegshandwerks in Gestalt kunststofflichen Zuckergusses ist ein bitterer Kommentar, ein ästhetisches Oxymoron, mit dem die unvorstellbare Ausdehnung der globalen Bellizismusmaschinerie nur noch mit dem Mittel der Miniatur zur Vorstellung gebracht werden kann. Claude Lévi-Strauss stellt die Vermutung an, dass die »meisten Kunstwerke verkleinerte Modelle sind«, woraus überhaupt erst Erkenntnis und Macht über die Gesamtheit gewonnen werden kann: »[I]n der Verkleinerung erscheint die Totalität des Objekts weniger furchterregend […] und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes. […] Anders ausgedrückt, die innere Kraft des verkleinerten Modells besteht darin, daß sie den Verzicht auf sinnliche Dimensionen durch den Gewinn intellektueller Dimension ausgleicht.« Ist dieser anthropologischen Aussage einerseits zuzustimmen, so ist ihr andererseits auch zu widersprechen. Die Verniedlichung, mag sie auch für den Moment genießbar sein, kann gerade deshalb erschrecken, weil wir gewahr werden, was nicht zu verstehen ist. Die Verkleinerung zeigt, was die technodestruktive Erhabenheit zu bewerkstelligen vermag: das Verkommen des Lebendigen zum bloßen Ornament.
Das fotografische Werk Folmers ist eine Mediengeschichte en miniature. Der Künstler wiederholt mit seinen Themen im Zeitraffertempo die Entwicklung des Mediums von der Registraturtechnik zur Kunst, von der Schwarz-Weiß- zur Farbästhetik, vom Analogen zum Digitalen, von der Dunkelkammer zum Computer. Lässt man die Bilder vorbeiziehen, entsteht der Eindruck, dass mit der Modernisierung auch ein Optimismusgewinn zu verzeichnen ist. Nicht das Enge, Intime, Kleine bestimmen den Bildraum; in der Landschaftsfotografie drängen das Helle, Offene und das Aufstrebende zu ihrem Recht. Gewiss, die Idylle wird nicht gesucht, doch scheint ein kunsttätiges Verlangen auf, sich von den trüben thanatopischen, heimsuchenden Motiven erholen zu wollen. Die Bilder bezeugen eine Hinwendung zum strengen formalen Blick, wobei Folmer die Befremdungsästhetik und die Tendenz zur Doppelbödigkeit beibehält. Der Serientitel »Spiegelungen« deutet dies an, sind Spiegel doch sonderbare Medien, in der die Welt im wahrsten Sinne verkehrt erscheint. Folmers Landschaftsszenerien, reflektiert von Gewässeroberflächen, versetzen den Betrachter in die Rolle des befreiten Höhlenhäftling in Platons »Höhlengleichnis«, der seine Wirklichkeitserfahrung im Draußen durch das Erschauen der Spiegelbilder auf dem Wasser einleitet. Wenn der Künstler eine von Unschärfen, Verwellungen und Verschmutzungen durchwirkte Wirklichkeit vor Augen bringt, dann sind die Störungen nicht erkenntniskritisch gemeint, sie stellen ästhetische Belebungen der Reinheit des Realen dar. Was ehedem durch Doppelbelichtung in der Entwicklerkammer bewerkstelligt wurde, übernimmt nun der natürliche Spiegel. Aus Welt wird Kunstwelt; was auf dem Kopf stand, wird wieder auf die Füße gestellt und ist nicht mehr dasselbe. Alles ist wahr und falsch zugleich. Die Fotografie, so hieß es einst, ist der Stift der Natur. Nein, sie ist eine Betrügerin, Verfälscherin in der Hand des Malers, der von einer anderen Wahrheit Kunde geben will. Dieses Miteinander von Zerrbild und Sinnbild wird deutlich an den Wiederspiegelungen der Glasoberfläche eines Parkhauses. Geradezu wirklichkeitsfremd wirken die ineinander geschobenen Ober- und Unterwelten, der Kontrast aus innen und außen, Natur und Beton, Dichte und Ordnung, Reich der Schatten und der Lichtflutung. Die Verklebung zweier Realitätsaspekte erzeugt ein schwer beschreibbares Gefühl der Uneinigkeit im Vereinten. Entgegen dem ersten Eindruck meldet sich die Unstimmigkeit, die Störung, der Schnitt, die eklatante Verkünstlichung, mithin eine unheimliche Energie. Mögen die weichen Wasserreflexionen von dem etwas verrückten, verschrobenen Sein hinter dem Wonderland-Spiegel Auskunft geben, so zeigen die harten Glasbilder die harsche Seite der Moderne.
In diesen wie in vielen folgenden Fotografien dominieren zwei wiederkehrende Bildformative, Folmer’sche Signaturen, die Träger subtilen Ent-Setzens sind. Zum einen ist Folmer bemüht, seine Szenerien menschenleer zu belassen. Treten Menschen auf, so erscheinen sie als Doppelgänger Frau Ottos, als Randgestalten. Menschenleere ist das ultimative Mittel zur Erzeugung von Unwirtlichkeit und Unwirklichkeit. Zum anderen ist auffällig, dass Folmer seine Fotografien visuell zerschneidet. Meist sind es waagrechte Linien, vergegenständlicht in Mauern, Horizontlinien, Dächern, Absperrungen und Zäunen, die sich durch das Bild ziehen und es zweiteilen. Daneben bestehen vertikale Schnitte in Gestalt von Pfeiler und Mast, Baum und Skulptur, Architektur und aufsteigendem Industriedampf. Die Logik der Bildteilung in oben und unten, links und rechts mutet wie eine Maßnahme an, die Wirklichkeitsabbilder zu Symbolen der Uneinheitlichkeit umzuwerten. Beides, die Menschenleere und die Zerschneidung sind Eingriffe, um den Lebenswelteindruck, in dem die Unauffälligkeit Oberhand hat , zu schwächen. Der formalistische Blick erzeugt Distanz und einhergehend die Chance auf Bedenklichkeit. Die Oberfläche des Gewöhnlichen ist das Sujet – normalerweise nicht der Rede wert, nicht Wert, betrachtet zu werden. Im Folmer’schen Bildzugriff kommt hingegen eine stumme Seltsamkeit zum Zuge: Der abrückende fotografische Blick sowie die Zumutung der Erstarrung zeugen von einer Seelenlage der Nicht-Verlässlichkeit von Wirklichkeit. Bilder vermitteln den Eindruck von Raumfahrten, die von der Frage begleitet werden, was in und hinter dem Gesehenen wirklich zu finden ist. Unter der Hand des Fotografen wird das, was ist, obskur, unromantisch, zweifelhaft – und unter Umständen sogar der Möglichkeit der Negation übergeben. Der Formalismus wirkt erkaltend, die Darstellung von Lebenswürdigkeit ist nicht das Ziel dieser Aufnahmen. In den Landschaftsbildern haust ebenfalls das Geisterhafte, das immer dort zu spuken beginnt, wo Menschen aufgehört haben zu existieren.
Die Distanznahme als Flucht und Schaugewinnung wird in der jüngsten Fotoserie fortschreitend ausgedehnt und zu dem Punkt gebracht, wo ästhetische Weltbefremdung zu Bildern des Weltverschlusses führen. Da die Panoramen allesamt in der Nacht fotografiert wurden und die Bildnahme ausschließlich auf das künstliche Restlicht in der Umwelt angewiesen war, kam es teilweise zu stundenlangen Belichtungen. Die Tatsache der Zeiteinfrierung allein bewirkt, dass einige Motive wie beleuchtete Bühnen wirken. Was kein Betrachter sieht: Folmer setzt die Szenen aus mehreren Einzelaufnahmen zusammen, diese können aus bis 150 Bildern bestehen. Die arbeitsintensive Post-Produktion bewirkt einen weiteren Verkünstlichungsschub, einen Weltbildbau, der die Wahrnehmung überschreitet: Die meterlangen Ausdrucke laden zu zwei gegenläufigen Rezeptionen ein. Der Betrachter geht auf Distanz, um das Ganze überblicken zu können, oder er tritt nah heran, denn erst der parzellierende Detailblick erkennt das Kleine und Unscheinbare, das im Gesamtbild verborgen ist. Mehr noch als in den Stadtbildern schwindet das Menschliche zur Punktgestalt; es dominiert das Glühen elektrischen Lichts und der Widerschein auf Bäumen, Dampf, Gebäuden. Auf diese Weise erlangen die Dinge eine hyperreale Präsenzförmigkeit bei gleichzeitiger filmischer Derealisierung.
Folmer wird das, was das Panoramafoto zeigt, nie so gesehen haben. Es ist das technische Dispositiv, das die dichte Farbigkeit und Dingkünstlichkeit hervorbringt. 1936 betont der Bauhaus-Künstler László Moholy-Nagy die sublimierende Funktion der Fototechnik: »die fotografie schenkt uns ein gesteigertes bzw. ein mehr-sehen in der – (unseren augen gegebenen) – zeit, in dem – (unseren augen gegebenen) – raum.« Folmer folgt konsequent dem Paradigma des »neuen sehens«, wie es damals hieß. Mit den Panoramen realisiert er ein Seherlebnis ästhetischer Überwältigung. Gleichzeitig ist eine paradoxe Spannung zu bemerken. Panorama ist die Bezeichnung für Großbilder, im 19. Jahrhundert für monumentale Rundbilder mit zumeist Landschaftsmotiven. Dieser Tradition scheint Folmer zu folgen, doch weisen seine Nachtbilder eine für ihn eigentümliche Verschlossenheit, Dunkelheit und mysteriöse Schattenhaftigkeit aus. Panorama in der griechischen Wortsemantik bedeutet Alles-Sehen (griech. pan, ›all, gesamt, völlig‹, hórāma, ›das Sehen, Anblick, Geschautes, Erscheinung‹). Folmers Großfotografien verbergen mindestens so viel wie sie enthüllen. Dies kommt in den eindrücklichsten Motiven zum Ausdruck, den beiden Gefängnisbildern und der aus der Vogelperspektive aufgenommenen Produktionsanlage von Bosch, die der Künstler treffend als »Raumschiff« bezeichnet. Die Verwendung der Metapher weist den Weg zu dem, was diese Bilder auszeichnet: Die Motive haben ihren Wirklichkeitswert, sind aber wie die frühen Fotoarbeiten auch Allegorien, in diesem Fall Allegorien der Undurchdringlichkeit des Wirklichen. Das Panorama ist in der Signatur Folmers schlussendlich auch ein Nicht-sehen-Können, ein Nicht-erkennen-Können. Gerade die Bemühungen um das hochauflösende Bild, um die Vergrößerung und das stundenlange Lichteinfangen bringen etwas hervor, das einen hohen Fremdheits- und Unwirklichkeitscharakter aufweist. Es scheint, als schwebten die Leuchtkörper in der schwarzen Unendlichkeit des ewigen Raumes. Diese ästhetische Brillanz erzeugt Betroffenheit angesichts der Schweigsamkeit der Fotografien, die an Blaise Pascals berühmten Aphorismus aus den Pensées denken lassen: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« Was die Panoramen idealtypisch verkörpern, gilt vielleicht für das gesamte fotografische Werk: Es zeugt von einer Wirklichkeitsunruhe.
Barytpapier, Kohlestaub, Rheingold und Nachtlicht
Textbeitrag von Martin Schick, „Gegebenheiten“, 2023
Galerie der Stadt Backnang
Ein Videofilm, schwarzweiß. Aufgenommen mit einer statischen Kamera, die von der Mitte des Raumes aus auf die leere schwarze Bühne eines typischen Gemeindesaalbaus gerichtet ist, der vielleicht in den Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wurde und wie es ihn wohl überall in der deutschen Provinz gibt. Vor der Bühne sitzen die Musiker eines Blasorchesters, links Blech-, rechts Holzbläser, in der Mitte das Schlagzeug. Davor steht der Dirigent, ein älterer Herr, mit dem Rücken zur Kamera, auf einem kleinen mobilen Podest. Kleider und Frisuren lassen auf einen Aufnahmezeitpunkt Ende der Achziger- oder Anfang der Neunzigerjahre schließen. Kein Publikum, eine Probe. Sie beginnen zu spielen, eine Art Marsch mit eindeutigem Rhythmus, der zu einem Umzug in der Faschingszeit passen könnte, wie er auch in Großrosseln jedes Jahr stattfindet und zu dem die Leute am Straßenrand dort „doll, doll!“ rufen. Aber irgendetwas stimmt nicht mit der Melodie in diesem Stück und auch die Harmonik entspricht nicht ganz der Hörgewohnheit. Dann kommt, im Zeitraffer, ein junger Mann mit hellem Sweatshirt nach vorne zum Dirigenten, bespricht sich mit ihm, der nächste Durchlauf folgt – und spätestens jetzt wird klar: Da stimmt wirklich etwas nicht, jetzt scheint die Melodie, ja der ganze Marsch auf Abwegen, bekommt Züge einer Parodie seiner selbst. Der Rhythmus ist zwar noch straff durchgehalten, aber alles andere scheint völlig verdreht. Als der letzte Ton verklungen ist, herrscht kurz Stille, dann eilt wieder der junge Mann – Wolfgang Folmer – nach vorne und ruft ihnen zu: Ja, das war doch schon mal gar nicht so schlecht! Den Ausdruck hat er gerade erst von den Schwaben gelernt, zu denen er zu diesem Zeitpunkt bereits übergesiedelt war. Er bedeutet auf Deutsch so viel wie: Das war absolut fantastisch, weiter so! Die konsternierten Musiker, offensichtlich selbst überrascht von dem, was sie da gerade gespielt und wohl zum ersten Mal gehört haben, brechen in ein erlösendes Lachen aus. Aber das war erst der Anfang. Nächster Durchlauf. Notenblätter werden getauscht, Anweisungen gegeben, der Marsch rutscht mit jedem Durchlauf zunehmend ins Absurde ab. Spielen sie, oder spielen gar nur Teile des Orchesters ihn rückwärts? Oder in der Umkehr oder Krebsumkehr, ohne Rücksicht auf die Harmonien? Wie hat der Mann die Noten manipuliert, hat er die Werte stellenweise verlängert und/oder zusätzliche Noten hineingeschrieben, hat er sie zerschnitten und neu zusammengefügt? Nach vielen Variationen hören wir am Ende ein Stück, das beinahe als „Neue Musik“ durchgehen könnte. Bis zum Schluss ein Marsch, ja, aber ein restlos demolierter. Etwas Neues ist entstanden aus den Bestandteilen des lustvoll zertrümmerten Alten, das auf seine Weise interessant und, wenngleich mit Merkmalen des Absurd-Komischen versehen, durchaus hörbar ist – mit neuen Ohren. Das Experiment ist Wolfgang Folmer, der im Musikverein seiner Heimatgemeinde Großrosseln selbst viele Jahre als Schlagzeuger aktiv war, gelungen. Für die Musiker wird es eine irritierende, ungewohnte, vielleicht auch inspirierende Erfahrung gewesen sein. Dass künstlerische Zerstörung enormes kreatives Potenzial freisetzen kann und immer auch der Beginn von etwas Neuem, Schöpferischem ist, diese Erkenntnis hat sich Wolfgang Folmer nicht nur mit diesem Video zu eigen gemacht.
Eine seiner schwarz-rosa-rot-weißen Vektorgrafiken zeigt die Diesellok, an der der Spielzeugmotorradfahrer zerschellt und in zwei Teile zerspringt; die flächenhafte Spielzeug- und Schablonen-Ästhetik lässt das Ganze als harmloses Spiel mit Schnipseln erscheinen. Aber das Böse, Brutale der Erzählung ist schon in der Welt. Die oberflächliche Harmlosigkeit kommt innerhalb der formal sehr homogenen Serien von Wolfgang Folmer oft erst unterschwellig und dann von Bild zu Bild plötzlich ins Kippen. Die kindlich verniedlichte, stereotype Spielzeugwelt prallt nicht selten, auch in den Bleistiftzeichnungen, auf plötzliche Übergriffe oder Unfälle: Im Kitsch lauert die Gefahr.
Etwas davon zieht sich durch sein ganzes Werk. Immer wieder Konventionelles, Schablonen, Kitsch, Kinderkram, aber auch Missratenes und unbeholfen Gestaltetes: Die Fokussierung und überdeutliche Zurschaustellung all dessen auf der einen Seite und schließlich der kreative Zerlegungsprozess andererseits erscheinen wie zwei Seiten einer Medaille in Folmers Arbeiten. Aus der Auseinandersetzung mit dem Trivialen zieht er eine seltsame Energie, die in eine Art künstlerische Überwindung mündet. Das fängt schon in den frühen Fotoserien in der alten Heimat an, die er bei Besuchen beispielsweise bei einer alten Dame in der Nachbarschaft gemacht hat – darunter Aufnahmen mit unerträglichen Anhäufungen von alten Möbeln, Kissen und Stofftieren, die sich zu einer ebenso faszinierenden wie bedrohlichen Kulisse auftürmen und gleichzeitig die authentischen Bühnenbilder einer Biografie zeigen. In Schwarzweiß auf mattem Barytpapier ist das alles gerade noch erträglich. Schwarzweiß ist abstrakter, ist wie Grafik. Und bei Wolfgang Folmer kommt alles von der Grafik; von ihr ausgehend hat er alles, was an bildnerisch-künstlerischen Techniken und Zwischentechniken zur Verfügung steht, erkundet, erweitert und immer wieder als Grafik formuliert. Es leuchtet einem auch sofort ein, dass einer wie Wolfgang Folmer von dort weg musste, um nicht schwermütig zu werden, weg vom gemütlichen, ausfransenden Rand der Welt an der lothringischen Grenze, weg von der romantisch-rauhen Schönheit des übersehenen westdeutschen Zonenrandgebiets, vom von Kohle, Ruß und Stahl und dem Klirren der Güterwagons geprägten, „gut katholischen“ Melancholialand zwischen Weidezaun und Schutthalde, um sich mit der Kunst andernorts neu zu erfinden – freilich nicht ohne noch einmal, und vielleicht ein zweites Mal, genau hinzuschauen. Die neue Heimat am Neckar bot ihm das geeignete Umfeld, um sich zu entwickeln, und die Nischen, die er brauchte, um nichts als zu arbeiten und alles andere dabei zu vergessen – oder zu verarbeiten.
Jahrzehnte Jahre später ist sein Ludwigsburger Atelier mehr ein Lager als ein Arbeitsraum, genaugenommen mehrere Lagerräume. In ihnen lagern unzählige Grafiken auf Papier, auf Holzplatten, Pastelle, Gouachen, Druckgrafiken, Vektorgraphiken, Fotografien, und noch viel mehr Kohle- und Bleistiftzeichnungen. Lange Reihen formal ähnlicher Arbeiten, in denen er immer wieder neue künstlerische Ansätze mit einer grenzenlosen, fast besessenen Unermüdlichkeit ausgekostet hat. Gesehen hat die Welt davon längst nicht alles. Wohin er auch greift, um etwas zu zeigen, es tun sich unendliche Welten von immer wieder ganz unterschiedlichen Werkgruppen auf, die aber – zumindest in den grafischen Werkkomplexen – doch alle einiges gemeinsam haben: Die Linie als formbestimmende Dominante. Eine Neigung zur Reduktion. Die Lust am Experiment. Szenerien mit interagierenden Formen bzw. Subjekten. Vor allem aber setzt Wolfgang Folmer auf die hartnäckige Arbeit an der unbedingten Form, die er mit einer einzelnen Arbeit nie erreicht, durch die er aber mit jeder weiteren Arbeit die Aussage konsolidiert, die entstehende Welt ausbaut, variiert, verstetigt und zuspitzt. Es geht ihm immer um diesen Prozess, um das Machen, stets voll auf die künstlerische Arbeit konzentriert. Mag sein, dass dabei das öffentliche Zeigen ein wenig zu kurz gekommen ist.
Dennoch gibt es auch im öffentlichen Raum einiges von ihm zu sehen: Etwa die 240 Meter lange, grau auf grau aufgemalte, abstrakte Grafik auf der abgeschrägten Kaimauer am Neckar, auf der Höhe des Kraftwerks Walheim, die man unverhofft beim Vorbeifahren auf der anderen Flussseite entdeckt – ein gewaltiges, ein unübersehbares, Zeichen in der Landschaft gewordenes Statement für seine grafische Kunstauffassung. Bis heute sind daneben immer wieder Videofilme entstanden. In den meisten dieser Videos sieht man den Künstler selbst körperlich agieren. Öfter als Schlagzeuger, der fast jeden noch so alltäglichen Gegenstand zur Rhythmusmaschine machen, zum Leben erwecken, zum Bestandteil seines Spiels, seiner Inszenierung machen kann. Dass in Vielem, was wir von Wolfgang Folmer sehen, eine feine, konstruktive Ironie steckt, wird gerade auch in den Filmen deutlich, sei es im Schlagzeugspiel mit Sofa als Instrument oder beim Spielen des auf dem Boden liegenden, zerlegten Schlagzeugs, eigentlich schon beim Musiktheater für drei Kuckucksuhren.
Die genaue Beobachtung, das Hinschauen, die Wahrnehmung der Welt ist ein in Wolfgang Folmers gesamter Arbeit präsentes Anliegen. Auch von daher ist der Stellenwert der Fotografie innerhalb seines Werks ist zunehmend gewachsen. Die neueren digitalen Möglichkeiten der Kamera sind dabei ein willkommenes Hilfsmittel; damit kann man dann eben doch jemandem etwas zeigen: Hier, schau mal! Dieses Haus. Diese Industrieanlage. Dieser Park. Und noch deutlicher und immer größer: Die gebaute Welt, wie sie sich der Kamera darstellt, bei Nacht und mit künstlicher, staunenswert unwirklicher Beleuchtung. Dieser Schrebergarten. Dieses Unternehmen. Dieses Atomkraftwerk. Diese Justizvollzugsanstalt. Als meterlange Panoramafotografie, die aus vielen einzelnen Fotos zusammengesetzt ist, in enormer Detailtiefe. Das ist ein Realismus, der märchenhaft, künstlich und entrückt wirkt und gleichzeitig ebenso distanziert wie tiefenscharf unsere Zeit dokumentiert.
Zuletzt führte Wolfgang Folmers Weg ihn in die Schweizer Berge, wo er im Rahmen eines Stipendiums in der Landschaft zeichnete, sein Zeichnen selbst mit der Kamera dokumentierte und kommentierte: Nichts als Scheitern sei es, was er da betreibe, sagt er in die Kamera, während er zeichnet. Die Produkte seines Scheiterns, die Zeichnungen, sehen dann alles andere als gescheitert aus. Aber, so muss man das wohl zu Ende denken, vielleicht gibt es die Zeichnung, die nicht scheitert, ja auch gar nicht, es sei denn als Vorstellung. Vielleicht ist alles Zeichnen immer ein Scheitern, ein erhellendes, lebendiges, rebellisches, anregendes, großartiges, auf noch viel mehr Lust machendes Scheitern. Dann wäre schlimmer als dieses Scheitern nur, es nicht darauf ankommen zu lassen und es aus Angst vor dem Scheitern erst gar nicht zu versuchen. Kunst muss immer ein Risiko eingehen. So gesehen mag man Wolfgang Folmers Kunst als Prozess eines grandiosen, erfindungsreichen, kämpferischen, sehenswerten, aus großer Fülle schöpfenden „Scheiterns“ im besten, im Folmer‘schen Sinne ansehen. Auch den Marsch, die Performance mit dem Musikverein Rheingold, die damals, Anfang der Neunzigerjahre, im Saalbau in Großrosseln gespielt wurde. Und man wird mit Wolfgang Folmer nach vorne stürmen und ihm zustimmend zurufen wollen: Das war doch schon mal gar nicht so schlecht!
Aus dem Vollen geschöpft: Wolfgang Folmers Pastelle
Textbeitrag von Petra Wilhelmy, "Wolfgang Folmer: an sich", 2023/24
Kunstmuseum Reutlingen
In seinen Pastellen schafft Wolfgang Folmer das, was ihn auch sonst umtreibt: Er generiert Fülle. Ist erst einmal der Anfang gemacht, gibt es kein Halten mehr. In rascher Sequenz folgt Bild auf Bild, wobei bestimmte Motive oder Ideen Impulse geben für die anschließende Produktion. Manchmal sind es lediglich Farbabriebe des Vorgängers, die das leere Blatt „impfen“. Aus den eher zufälligen Markierungen erwachsen dann wieder neue Erfindungen. Folmer arbeitet exzessiv, um, wie er selbst sagt,1 seinen Verstand während des Tuns möglichst auszuschalten und ganz intuitiv, aus dem Gefühl heraus, das anschaulich wiederzugeben, was sich in ihm aus spontanen Ideen, Eindrücken und Erinnerungen zusammenbraut.
Diese in allen Werkgruppen angewandte Vorgehensweise bezieht die Pastelle mit ein. Anders als die permanent zum Einsatz kommende Zeichnung beschränkt sich die Ausübung der Pastellmalerei bisher auf einen begrenzten Zeitraum: Zwischen 1998 und 2003 entstehen in vier Schüben eine große Zahl an Artefakten in dieser Technik. Wie der rauschhafte Arbeitsrhythmus entsprechen auch die Themen dem üblichen Kanon. Unorthodox, frei und kaum zu entschlüsseln finden Dinge zueinander, die nicht unbedingt zusammengehören. Die Mischung märchenhafter und unheilvoller Elemente, gespeist aus Wiederholungen, Abwandlungen, Echos und Überblendungen, bietet eine Quelle vieldeutiger und nicht wirklich greifbarer Aussagen.
Was die Pastelle vom übrigen Schaffen inklusive anderer farbbasierter Gestaltungsmethoden unterscheidet, ist die malerische Handhabung des Materials. Während in den Aquarellen und Acrylmalereien die mit dem Pinsel aufgetragene Linie das Sagen hat und in den in Mischtechnik auf Transparentpapier ausgeführten Zeichnungen Farbe als unvermischtes, flächenfüllendes Medium auftritt, kombiniert Folmer in seinen Pastellen lineare Setzungen mit sich wandelnden, luftigen und partiell verschwommenen Farbarealen. Kohle oder Buntstift können die Kreide als weitere Komponenten komplementieren. Schwarz dient der Verdunkelung sowie Verunklärung und etabliert einen Gegenpol zu den koloristisch frischen und vitalen Passagen. Die Wahl der Farbwerte entspricht keineswegs der gängigen Vorstellung lichter Pastelltöne, wie wir sie z. B. mit den Tänzerinnen Degas‘ oder den Porträts Renoirs assoziieren. Ein sattes, flächiges Mittelbraun unterwandert die Leuchtkraft heller Färbungen, noch öfter verschattet Schwarz die Formen in verschiedensten Nuancen. So drängt sich eine abgründige, wenig vertrauensvolle Wirkung zwischen die Dinge, umhüllt Tiere, Fabelwesen, Pinocchio und sexuelle Fantasien. Die Bildwelt entzieht sich einem stringenten Zugriff. Anderen Werkkomplexen analog ermöglicht die serielle Kontiunität Wiedererkennungsmomente und Modifikationserlebnisse. Schneemann, Adventskranz oder Nudelholz verändern ihr Gesicht. Inhaltlich vom Gesamten abgegrenzte Einzelfälle gibt es keine.
Die Darstellungen formieren sich als Konglomerat diverser Realitätsebenen, die sich kaum auseinanderdividieren lassen. Mysteriöse, bedrohliche Visionen und abstrakte Flächenmuster liefern Tannenbaum, Spielzeugfiguren, Fußball oder Revolver ein Pendant. Oft verzahnen sich realistische Motive mit linearen Schraffuren, markanten Andreaskreuzen oder Farbbewegungen. In den Schneemann-Bildern beispielsweise verströmt ein rot-weißes Karodesign den zünftigen Charme eines Geschirrtuchs, doch was hat das mit der Kinderglück verheißenden Figur aus Wintertagen zu tun? Und ist diese Konnotation überhaupt gemeint? Manch eine der figurativen Fusionen mutet paradox an, alle erscheinen eigenwillig oder gar skurril und geben zu denken. Interferierende Bildfragmente verdichten sich optisch, wobei formale Ähnlichkeiten Ideenverknüpfungen erzeugen, die überraschen und den Blick schärfen – ein Merkmal, das schon seit den frühen Zeichnungen die Gestalt sämtlicher Arbeiten des Künstlers charakterisiert.
Neben den technisch bedingten malerischen Effekten springen in den Pastellen zwei Sujets ins Auge: mit breiten Balken ausgeixte Gegenstände und eng aneinander gefügte Bilderrahmen, wie man sie von musealen Depotwänden her kennt. In den übrigen Werkgruppen tauchen sie nicht auf. Vor allem die in der Art eines Andreaskreuzes bezeichneten Figuren sind ungewöhnlich. Erst werden sie auf der Fläche platziert und dann wiederum mit Nachdruck aus dem Kontext gelöscht. Handelt es sich um Korrekturen, unwillkürliche Meinungswechsel oder Provokationen? Ein Krokodil hat vor einem Adventskranz nichts verloren, vor der Teigwalze schon, denn es greift deren Umrisse auf. Eine durchgestrichene Kerze am Kranz könnte bedeuten, dass der erste Advent schon vorüber oder der dritte gerade angesagt ist. Vielleicht jedoch signalisieren die Kreuze nur Störungen, vereiteln unsere Erwartungen und konventionellen Wertungen? Oder dokumentieren sie kompositorische Anliegen? Die „Rahmenbilder“ an Stellagen etablieren andere, ebenso ausgefallene Perspektiven. Die Holzrahmen umranden Bilder, die sich als freie Farbspiele entpuppen und sich an kein Reglement halten, sondern explizit die Halt stiftenden Leisten ignorieren. Wolkige Schwaden, oft von Dunkelheit hinterlegt, entfalten sich über Grenzen hinweg. Natürliche oder landschaftliche Objekte sind selten identifizierbar – Wolkenhimmel etwa oder Wasserspiegelungen –, stattdessen dominieren vage Impressionen atmosphärischer Phänomene. Keimen, wie in einem Exemplar, weibliche Brüste aus der Unschärfe empor, manifestiert sich darin eine bewusste oder aber absichtslose Nähe zu den ironisch überspitzten Extravaganzen René Magrittes. Surreal und fantastisch muten auch die Bildräume an, an deren dicht bestückten Stellwänden sich einzelne Fenster in unterschiedlichen Winkeln öffnen. Zudem kann ein verführerisches Kolorit an Fußboden und Decke den Raum in nicht einsehbare Sphären erweitern. Anziehungskraft und Misstrauen lösen sich ab.
2003 integriert Folmer über Frottagen natürlicher Oberflächen organische Strukturen in die teils verwischte, teils grafisch konfigurierte Farbgebung seiner Pastelle. Holz, dessen Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten ihn faszinieren und das ungefähr zeitgleich über seine Holzschnitte auf Baumstämmen im Rahmen weltweiter Naturprojekte große Bedeutung für sein Schaffen gewinnt, findet so nicht nur als Bildmotiv, sondern auch als Material Eingang in seine Malerei. Der Kreis schließt sich.
Die Flut, mit der er innerhalb seines persönlichen Kosmos dank eines individuellen Baukastenprinzips wie ein Getriebener immer wieder neue Bilder kreiert, lässt sich als selbstreferenzielles System2 begreifen. Die von ihm hervorgebrachten Ergebnisse gelten per se, aus sich selbst heraus und unabhängig vom Willen des erkennenden Subjekts. Allein die Erscheinungen der Dinge können wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand erfassen.3 Und so obliegt es unseren eigenen Fähigkeiten, die Gegebenheiten zu rezipieren und zu deuten. An sich geht es im künstlerischen Œuvre Wolfgang Folmers um genau das, was Kunst generell definiert: eine gestalterische Transformation subjektiv gefilterter Wahrnehmungen in neue Fakten.
Als ob es kein Morgen gäbe
Textbeitrag Petra Wilhelmy, „Gegebenheiten“, 2023
Galerie der Stadt Backnang
Die Kunst Wolfgang Folmers ähnelt einem Feuerwerk: Aus einem einzigen Körper entspringen einem Sternenregen gleich tausend glühende Funken, wobei die erste Explosion schon die nächste zündet. Man kann sich kaum satt sehen an dieser Menge ausgestreuter Geistesblitze und fragt sich erstaunt, wie ein einzelner Mensch so viel kreative Energie versprühen kann, und zwar auf ebenso dynamische und dezente Art. Der Künstler zielt nämlich nicht auf Effekte ab, die nach Aufmerksamkeit heischen, bevor sie knallend verpuffen. Er versucht keineswegs, mit plakativen Bildproduktionen Aufsehen zu erregen oder gar allgemeines Gefallen zu generieren. Er macht einfach sein Ding, und das ungewöhnlich gut.
Der Qualität tut es keinen Abbruch, dass er 1999 seinen Stil abrupt ändert. Ab dann legt er seine Zeichnungen, Holzschnitte und Malereien schlicht an, beinahe wie von Kinderhand und darin den gewollt primitiven Darstellungen Picassos nahestehend, mit dominanten Konturen und Flächen. Gerade die formale Minimalisierung forciert die Wahrnehmung des souveränen Strichs und des gelungenen Wurfs. Die oft konträren Elemente und komplexen Bezüge bieten immer wieder neue Möglichkeiten an Zuordnungen und Interpretationen. Franz Joseph van der Grinten erkennt bereits 1994 „die Kraft und die Fülle des Barocks" in Folmers Schaffen, eine Fülle, die „nichts Anderes als der leidenschaftliche Wunsch [ist], der Wirklichkeit habhaft zu werden“ – voller Hingabe und unter dem Bewusstsein unvermeidlicher Vergänglichkeit.
In der Tat ist sein Œuvre eine Quelle intensiver Aneignung, Bewältigung und Erweiterung von Realität. Sein Gestaltungsspektrum erweist sich als offen und ungemein vielseitig. Er arbeitet exzessiv, bevorzugt seriell, in Bilderreihen und Videos. Alles entfaltet sich im Fluss, intuitiv ergibt sich ein Werk aus dem anderen, bis die Flut allmählich verebbt. Teils instinktiv, teils reflektiert bedient er sich bei seiner Spurensuche Methoden wie Fragmentierung, Überblendung, Montage, Verdoppelung, Spiegelung und Kombination zusammenhangloser Motive, um Widersprüchliches oder Äquivalentes aufzudecken. Mit den Themen, die ihn bewegen, befasst er sich oft multimedial. Wolfgang Folmer sieht sich im schöpferischen Prozess selbst „in einer Art Trance […] als Handelnden, mein Körper agiert. […] Das Hervorbringen von Bildern folgt einem inneren Handlungsimpuls, ist konzept- und absichtslos. Das Reflektieren folgt im Anschluss – dazu ist Abstand notwendig. Ich nenne es ein ‚Nach-Denken‘.“ Schonungslos verausgabt er sich in Phasen absoluten Schaffensdrangs, geht radikal und voller Präsenz an den Rand der Belastbarkeit und findet im Anschluss trotzdem Elan für künftige Projekte.
Das Arbeiten in unterschiedlichen Techniken – Fotografie, Video, Musik, Performance, Druckgrafik, Malerei und besonders Zeichnung – als auch der Wechsel von den akribisch in altmeisterlicher Tradition ausgeführten zu den kindlich aussehenden Zeichnungen bedeuten für ihn jeweils einen befreienden Sprung. Hier zeigt er Mut und die Bereitschaft zu scheitern, wie die Maus, die sich ihm einst in existenzieller Bedrängnis mit aller ihr zur Verfügung stehenden Muskelkraft entgegenschleuderte, oder der Schlittschuhläufer, der sich für seine Kunstfiguren zum kompromisslosen Abheben vom Eis überwinden muss. Um zu vermeiden, dass wachsende Routine Reproduktionen des Immergleichen begünstigt, wagt er den Salto auf bislang unbeackertes Terrain und geht neue Wege. Von klassischen Bildgegenständen schlägt er einen Haken zu Gestalten aus dem Märchen- und Spielzeugreich, vom Persönlichen, Unscheinbaren und Alltäglichen zu befremdlichen Szenografien und hyperreal leuchtenden Nachtpanoramen. Mit unkonventionellen Herstellungsverfahren überlistet er sich, indem er mittels Kontrollverlust seine subjektiven Fähigkeiten unterwandert und dadurch in vorher nicht absehbare Dimensionen dehnt: Beim Fotografieren angestrahlter Architekturkomplexe etwa entlockt er der Dunkelheit eine intensive, malerische Farbigkeit. Beim Zeichnen arbeitet er sporadisch mit geschlossenen Augen, mit der linken Hand, hinter dem Rücken, auf am Boden liegendem Papier, immer sehr konzentriert aus dem Inneren heraus. Der eigene Körper ist sein Instrument, auch in den bildgebenden Medien. 2001 hält er während eines temporären Atelieraufenthaltes im Kunstverein Schwäbisch Hall seine zeichnerischen Aktionen mit der Filmkamera fest. Diese Performance dokumentiert den physischen Einsatz und die Integration des ganzen Leibes in die lebensgroßen Kohlezeichnungen über das Skizzieren von Bewegungsmustern oder demonstratives Einpassen in die bereits angefertigten Umrisse auf dem Blatt im Hintergrund. In ähnlicher Weise demonstrieren seine Videoaufzeichnungen von 1997 in der Eberhard-Ludwig-Kaserne, Ludwigsburg und 2000 im Künstlertreff, Stuttgart, diesmal spartenübergreifend mit selbst erzeugter Percussion nachträglich unterlegt, sein experimentelles, überaus geschicktes Prozedere.
Prinzipiell geht Wolfgang Folmer in seinen bildhaften Inszenierungen von Erinnerungen oder Fundstücken aus, seien es Erlebnisse, Sachverhalte, Spielzeug, Malbücher, die Stämme umgestürzter Bäume oder Orte, die als unattraktiv bzw. unzugänglich gelten. Viele seiner Prototypen hat er abrufbar im Gedächtnis gespeichert. Im Werkprozess entwickelt er aus ihnen spontan unbequeme und irritierende Seh- und Denkangebote. Es schwelt in der uns präsentierten, scheinbar heilen Welt, Gewohntes wird zur Metapher für seelische Nöte. Die „Wirklichkeitsunruhe“, die Gunnar Schmidt seinen Fotografien sehr treffend attestiert, ist ein Charakteristikum seines gesamten Schaffens. Was wir sehen und zu (er)kennen meinen, hat jeweils auch eine dunkle, schwer abwägbare Seite. Dieses kunstimmanente Phänomen bringt das zum Ausdruck, wofür John Burnside den altschottischen Begriff „glamourie“ gebraucht, nämlich „jenen verzauberten Zustand, in dem alles, auch das einfachste Ding, das simpelste Ereignis, voll magischer Möglichkeiten steckt.“
Videos
Schon im Studium entdeckt Folmer neben der Fotografie das Video als Kunstform. Ab 1987 dreht er kurze Filme, in manchen Jahren mehrere, dazwischen gibt es immer wieder Pausen. Meistens ist er selbst der Akteur, in künstlerisch, musikalisch oder mimisch tätiger und, wenn er nicht vor der Kamera steht, in beobachtender und protokollierender Funktion. Die Kamerajustierung ist fix, Bewegung findet lediglich vor dem Objektiv statt. Die kann sich mitunter sehr langsam vollziehen wie im Beispiel der drei Kuckucksuhren aus dem Jahr 1991, deren Pendelschwung sich kaum merkbar verschiebt, oder dem einer in Zeitlupentempo über eine Holzplatte kriechenden und im Nirgendwo verschwindenden Weinbergschnecke. Zeit ist auch sonst relevant, entweder im Zeitraffer beschleunigt oder als Verlauf von Alltagsbegebenheiten, so in den Strandszenen in Brasilien und den Aufnahmen der täglichen Autofahrt zur Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste von 1992, hier drastisch kombiniert mit im Radio übertragenen Nachrichten zum Golfkrieg. Individuelles, beschütztes Leben und verhängnisvolles, folgenschweres Weltgeschehen prallen hart aufeinander.
In vielen Videos steigert der Klang von Schlaginstrumenten die Spannung, in anderen ist der originale Begleitton der Bildaufzeichnung zu hören, vom Motorbrummen über Klopfrhythmen, Ticken, Musizieren, Umgebungsgeräusche bis zu bewusst gesprochenen Kommentaren. Die Beschränkung auf Schwarz-Weiß vereinheitlicht den Großteil der Beiträge, Farbe bleibt die Ausnahme. Analog zur Fotografie wird sie in dieser Technik bei ihm erst ab 2018 zu einem signifikanten Gestaltungsfaktor. Fast beiläufig fängt die Kamera 1990 Situationen und Klänge von Meeresrauschen, eines Fastnachtsumzugs und eines Volksfestes, dem Canstatter Wasen, ein. Die traditionellen Veranstaltungen erzählen sich in epischer Breite ohne zusätzliche persönliche Beurteilung selbst. Sie zeigen eine durch Alkoholkonsum aufgeheizte, kurzfristige Realitätsflucht der nach Attraktionen, Ablenkung und Vergnügen heischenden Bevölkerung. Dagegen ist der im selben Jahr produzierte Film über die Schlacht von Verdun visuell und auditiv präzise komponiert. In rasenden Sequenzen sind die aus einer abgefilmten Leinwandprojektion im Mémorial de Verdun per Schnitt isolierten Einzelbilder zu einer vibrierenden, beängstigenden Reihe addiert und mit einem Stakkato an Trommelschlägen derart intensiviert, dass man atemlos die Detonationen der Gefechte zu spüren meint. Dieses nur einminütige Werk evoziert höchst effizient einen bleibenden Gesamteindruck des kriegsbedingten Grauens.
Sind die eigene Person und ihre Handlungen Objekt der Erkundung, wählt der Künstler gerne partielle Ansichten: Kopf mit Schultern, zappelnd und geschnürt, ein schemenhaftes Bein, rhythmisch hämmernde Finger, Kinn und Mund. Diese Details kehren Denkmuster um, indem sie einen anderen als den allgemein bekannten und gewohnten Blick auf den Körper gewähren. Im Video „Bleylebau“ mit einer Schuhklangperformance spielen Hände und Füße als gleichbe-rechtigte Protagonisten ihr Instrument auf dem Boden. Der Fokus liegt auf ihren Positionsände-rungen, dem Heben und Senken, dem Klatschen der Sohlen und deren Widerhall im leeren Raum. Wie stark die in Pantoffeln steckenden Hände unseren Füßen ähneln, ist fappierend und kann auch verstörende Assoziationen hervorrufen. Dasselbe tun die oralen Selbstbetrachtun-gen, die waagerecht gespiegelt dem Kinn den Platz der Nase einräumen und so die gesamte Mimik konterkarieren. Die Aktionen von Mund und Zunge, das Lecken, Schmatzen und Prusten wecken Emotionen, die zwischen Amüsement und Abscheu schwanken.
Von solchen Körperfragmenten abgesehen können auch bei Filmaufnahmen aus größerer Distanz optische Schnitte das Geschehen formal spalten und damit den szenischen Ablauf verfremden. Das 1990 an der brasilianischen Küste gedrehte Video, in dem ein zentrales Kreuz aus vertikaler Stange und horizontaler Stromleitung das Bildfeld viertelt, ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Wirklichkeit vor der Kamera und die unter dem individuellen Blickwinkel des Beobachters damit eingefangenen Bilder weichen voneinander ab. Die Ereignisse am Strand blieben belanglos, wäre da nicht dieses Kreuz mit im Bild, das real gar nicht vorhanden ist, sich vom eingenommenen Standpunkt aus jedoch prominent in die Sicht schiebt. Das Fadenkreuz im Zielfernrohr einer Waffe kommt einem in den Sinn, aber auch das Symbol christlichen Glaubens oder die Quadranten eines Koordinatensystems. Zwei Linien bloß, und das Bedeutungsspektrum der Darstellung expandiert um viele Ebenen.
In der Anfertigung komplexer ist das Video mit Szenen, in denen ein Musikverein Eigenkompositionen Folmers vorträgt. Im Vorfeld hatte er die Partitur eines Marsches zerschnitten und die Passagen anders zusammengesetzt. Die Soundcollage hört sich schräg an, und die von Brüchen und Sprüngen durchwobene Gesamtaufführung mutet urkomisch an. Mit viel Humor präsentiert der Film das disharmonische Ergebnis einer aufwendigen, dabei vorsätzlich provisorisch erscheinenden, absurden Darbietung.
Im Unterschied zu diesem konzeptuellen Ansatz liegt den aktuellen Videos eine Intention zugrunde, die an frühere Arbeitsnachweise anknüpft: die digitale Dokumentation seines produktiven Schaffens im bild- und tonkünstlerischen Metier. Wolfgang Folmer nimmt uns mit in seine Atelierräume und in die Schweizer Alpen. Wir sind sehr dicht an seinen Erlebnissen, an der meditativen Versenkung beim Schlagen von Beats und 2022 in Sta. Maria Val Müstair außerdem an der grandiosen Bergkulisse und der Übertragung der davon ausgelösten Impressionen in artistische Ausdrucksformen. Die fungierte Kommunikation hilft dem Künstler, seine Isolation an diesem einsamen Ort und die Erfahrung des Extremen und Gigantischen zu bewältigen.
Eher als die abstrakteren Schwarz-Weiß-Fassungen entsprechen die Farbfilme unseren Erwartungen an das Medium. Unverfälscht und originell veranschaulichen sie, wie experimentierfreudig und strapazierbereit Folmer seine Ideen entfaltet, wie er mit Leibeskräften agiert, wie er sein Equipment an die Rahmenbedingungen anpasst, sich mit Wenigem begnügt und Materialknappheit mit einem Überschuss an Fantasie aufwiegt. In den Zeichnungen genügen Papier und Kohle, um mit spontanem Linienduktus und einer an die Grafiken Ernst Ludwig Kirchners erinnernden Expressivität die Großartigkeit und zackige Schroffheit des Gebirges nachzuempfinden. Mit den Bergbildern greift er die Landschaftsthematik wieder auf, der er sich bereits 2003 ebenfalls in Kohlezeichnungen widmete, jedoch wählt er nun einen härteren, linien- und kontrastbetonten, stürmischeren Zeichenmodus. Bei auditiven Einspielungen behilft er sich provisorisch, indem er Gebrauchsgegenstände umfunktioniert, etwa Möbelstücke und Kochgeschirr zu Musikinstrumenten macht. Völlig konzentriert geht er in dem auf, was er tut. Die Kameraeinstellung wechselt zwischen Aufsicht, frontaler Aufnahme und Fokussierung auf Details, primär die tätigen Hände. In einem gefilmten Doppelporträt kombiniert er getrommelte Rhythmen zu einer interaktiven Klangperformance. Immer sind es sehr originelle, klar strukturierte und erfinderische Operationen.
Zeichnungen
Wolfgang Folmer zeichnet ein Leben lang. In großen Serien untersucht er Themen und Gestaltungsmodalitäten und legt damit den Grundstock anderer Werkgruppen. Diese unverzüglich anwendbare, unmittelbare Technik eignet sich als ideales Ventil für seinen instinktiven, bewegungsaffinen, oft ungestümen Schöpfungsdrang. Unorthodoxe und die Grenzen gängiger Genres überschreitende Verfahren verhindern einerseits eine sich abnutzende Gleichförmigkeit und andererseits eine hervorstechende Virtuosität. Stattdessen garantieren sie sperrige, sehr vitale und innovative Seherfahrungen.
Zwischen 2001 und 2006 entsteht eine umfangreiche Reihe von Zeichnungen in Bleistift, Bunt-stift oder Mischtechnik auf Transparentpapier. Sie funktionieren nach den für ihn typischen Prinzipien der Repetition, Schichtung und Neuordnung. Der erste Eindruck lustiger Spielereien, an denen Kinder ihre Freude haben könnten, verblasst, sobald man genauer hinschaut. Zwar erscheinen uns die Zwerge und Tiere, die Wagen, Sonnen und Häuschen aus Bilder- und Malbü-chern vergangener Tage vertraut, dennoch haftet ihnen etwas Ungelenkes und Ungereimtes, manchmal sogar Monströses an. Sie purzeln auf irritierende Weise durcheinander: gedreht, kopfüber, schwebend, ohne Halt. Oft sind sie nicht im selben Raum, sondern vorder- und rück-seitig auf mehreren Folien angesiedelt und kommen daher nur indirekt und zufällig in Berüh-rung. Sie begegnen sich und sagen sich nichts – oder doch?
Die Figuren sind zu Silhouetten verflacht, ganz plan oder wie bei Laubsägearbeiten aus dünnen Holzplatten mit seitlicher Kante und erlangen bloß hier und da mehr Volumen. Schwarze Schatten drängen einzelne Schablonen gespenstig nach vorne. Das lichtdurchlässige Papier erlaubt eine subtile, kaum wahrnehmbare Stufung diverser Ebenen, deren Motive den Raum surreal verdichten. Allerdings findet die Fusion rein im Formalen statt, im Gegensatz zum Comic gibt es keine stringente Bilderzählung. Verstreut kristallisieren sich Handlungszentren heraus, darunter nicht selten sexuell oder gewalttätig aufgeladene. Mehrdeutigkeiten und Provokationen rütteln heftig an der Fassade naiver Unbekümmertheit. Hin- und hergerissen fühlt man sich magisch angezogen von der fantastischen Atmosphäre dieser Traumbühnen, auf denen die Puppen und Phantome tanzen und das Harmlose einen Pakt mit dem Grausamen schließt.
Bleistiftlinien markieren jeweils das Grundgerüst des Bildes, die Konturen der Objekte und, falls vorhanden, Binnenstrukturen, die verschiedentlich Holzmaserungen, also einen natürlichen Werkstoff imitieren, dem Wolfgang Folmer insgesamt hohen Wert beimisst. Dorothee Götte-Heiss spricht vom „Primat des Holzes“, Beatrix Rey betont auch seinen „Sinn für die lebenden Bäume“. Neben den organischen Texturen wirken seine Leerformen seltsam materielos. Die Farbfüllungen, ob mit Buntstift oder mit Pinsel und Acryl, erfolgen nach Komplementierung der Figuren durch kontrastierende Schatten im übernächsten Schritt. Dabei sind die vielen Vorleistungen unentbehrlich, um zu Neuem und bis dato Unerprobtem zu gelangen. Sie sind Komponenten einer einzigen Kreativitätskette. Initiieren in den Kohlezeichnungen Abdrücke von Motiven den Fortgang der zügigen Gestaltung auf den leeren Blättern, so kurbeln beim Arbeiten auf transparentem Trägermaterial durchgepauste Bestandteile den Ideenfluss an. Nach dem Modell von Baukastensystemen generiert Folmer aus kopierten und frei wiederholten Versatzstücken und weiteren Faktoren eng verwandte Bildvarianten. „In der Zusammenstellung und Anordnung liegt die Aussage. Solches Denken zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, durch die verschiedensten Arbeitstechniken.“ Der Umgang mit der relativ spät als Ausdrucksmittel eingesetzten Farbe manifestiert insofern eine Herausforderung für ihn, als er sie weder in Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Vorbild noch reflektiert nach ästhetischen Gesichtspunkten gebraucht. Er wählt seine Farben frei und bezieht den Zufall mit ein. Außergewöhnliche Kombinationen lässt er mit Bedacht zu. Welche Felder er koloriert und welche er linear beibehält, entscheidet er intuitiv. In Mischtechnik verbindet er Farbzonen zu kaum entschlüsselbaren, gewebeartigen Konglomeraten, die sich in durchscheinenden Passagen wiederum vielversprechend öffnen.
Beim Verzicht auf Farbe treten die formbestimmenden Umrisslinien markanter hervor und überziehen das Blatt mit einer vereinheitlichenden All-over-Struktur, die zwar einem Automatismus unterliegt, aber konträr zum Action Painting immer dinglich orientiert bleibt. Folmers untrennbar verzahnte Bildelemente funktionieren unabhängig vom Ganzen genauso gut allein oder in anderen Kontexten. Die Überfülle fabelhafter und ambivalenter Hirngespinste mancher Zeichnungen kann als Reminiszenz an den Horror vacui des Barocks interpretiert werden, der das Orgiastische und Vergängliche gleichermaßen feiert. Auch Wolfgang Folmer integriert kontroverse Wirklichkeiten in seine Bildwelten: Fiktion und Fakten, Faszination und Unbehagen, Witz und Schrecken, überbordende, wundersame Imagination und animalische, ins Groteske verzerrte Brutalität.
Holzschnitte
Der Übergang von den Zeichnungen zu den Holzschnitten ist fließend, denn die Inhalte werden in Zeichnungen vorbereitet und die charakteristischen Silhouetten auch in der Drucktechnik zu kompakten Rapporten verflochten. Doch gibt es signifikante, vom Medium bedingte Unterschiede: Fissuren oder Unschärfen im Abdruck. Die Abzüge auf Papier indessen, die bei künstlerischen Druckverfahren traditionell als das eigentliche Werk gelten, repräsentieren für Folmer nur vorübergehend und ausschnitthaft das Resultat seiner holzbearbeitenden Tätigkeit. Er schneidet das Relief nämlich nicht wie üblich in einen flachen Druckstock, sondern ohne Zwischenstation in den von Rinde und Ästen entledigten, glatt gehobelten und mit schwarzer Farbe überzogenen Stamm von Pappeln, Buchen oder Eukalyptusbäumen. Diese von ihm seit dem Bildhauersymposion Marbach im Jahr 2000 praktizierte Methode statuiert ein Alleinstellungsmerkmal seiner Kunst. Die bis zu 16 m langen, aufgrund der Rundung aus nur einer Position nicht in Gänze einsehbaren Säulen sprengen die Kunstgattungen zwischen Druckgrafik und Bildhauerei. Es sind Skulpturen, die horizontal lagern und nicht als Zeichen des Triumphs vertikal aufgerichtet werden, wie es der Prototyp mit Erzählfriesen reliefierter Säulen, die den Sieg über die Draker akklamierende Trajanssäule im antiken Rom für Jahrhunderte vorgab. Ebenso können sie als Druckform für Handabreibungen in ausführbaren Maßen nach dem Modus von Monotypien fungieren. Das Gesamtbild splittet sich collageähnlich in locker umsäumte, eine provisorische Leichtigkeit transportierende Fragmente. Das Ergebnis ist ein Weißliniendruck mit weißen Linien in schwarzen, von Holzmaserungen geprägten Flächen. „Dieser Effekt erweckt die Bilder zum Leben und bringt etwas von der Natürlichkeit und Naturverbundenheit des Baumes aufs Papier.“
Die ursprünglich gewölbte Formgebung wird nach dem Druck in ein flächiges Bild auf Papier oder eine Stoffbahn abgefärbt. Nach dem Abzug wird weitergeschnitten und dadurch mehr Weiß freigelegt, so dass bald nur noch „kleine schwarze Inseln mit Bilderresten“ übrig bleiben. Dann kann die obere Holzschicht komplett abgenommen, erneut geschwärzt, geschnitzt und abgedruckt werden, so oft, bis der Stamm am Ende seine Substanz verliert. Für Folmer ist wichtig, dass das Material, ganz gleich in welchem Umfang, nach Abschluss seiner Tätigkeit in den biologischen Kreislauf zurückkehren kann. Mancherorts lässt er die fertigen Stämme draußen liegen, damit sie sich auflösen können. Die meisten der Baumstamm-Skulpturen und -Drucke sind eingebunden in öffentliche Projekte: internationale Bildhauersymposien und Arbeitsstipendien in Deutschland, Europa, den USA und China. Bei seinen Aktivitäten passt Folmer die Werkgenese an die Gegebenheiten vor Ort an, seien es äußere Bedingungen oder Interaktionen mit anwesenden Personen. Er arbeitet im Freien oder in Innenräumen, allein, unter Beobachtung oder mit anderen gemeinsam. Kinder finden leicht Zugang zu dieser spielerischen, unbefangenen Praxis, sich kreativ auszuleben. Auch die Motive kommen ihrer Vorstellungskraft entgegen. Für ihn selbst bedeuten solche Kooperationen eine logische, ungekünstelte Erweiterung seines Entfaltungspektrums.
2012 fällt er die Entscheidung, auf Abzüge zu verzichten und lediglich die Druckstöcke als Werk zu präsentieren. Seitdem stehen die Holzreliefs, egal ob auf Stämmen oder Druckplatten, für sich. Bei den Baumstämmen regt ihn die Beschaffenheit des Gehölzes zur grafischen Ausgestaltung der Oberflächenstruktur an. Die reicht von abstrakten Mustern fein ziselierter Linien und ausgefranster Puzzleteilchen über scharf konturierte, gegenständliche Elemente im Stil von Comics bis zu alles bedeckenden Kalligrafien. Obwohl inhaltlich völlig disparat, lassen sich formale Analogien zur griechischen schwarzfigurigen Vasenmalerei des 7. bis 5. Jahrhunderts v. Chr. feststellen, vorrangig in den Schnitzwerken, die die Schattenbilder markant vor dem hellen Hintergrund isolieren. Auf den Keramiken sind zwischen ornamentierten Banderolen narrative Friese mit Szenen aus Mythologie und Alltagsleben aufgereiht. Folmer dagegen mischt partikuläre Bedeutungsträger ohne geordnete Chronologie zusammen und erzählt in jedem Arbeitsgang neue Episoden. Die Vasenmalereien ergänzen als wichtige Forschungsquellen das Wissen über Götterglauben und Traditionspflege der Antike, während Folmer den umgekehrten Weg geht und aus überliefertem Bildungsgut Bruchstücke extrahiert. In der ästhetischen Ausstrahlung aber besteht eine ins Auge springende Nähe. Kräftige Kontraste und eine schematische Vereinfachung bringen in beiden Fällen starke, expressive Bilder hervor.
Die Holzschnitte auf riesigen, bis maximal 8,5 m² großen, nur 8 mm dünnen Sperrholzplatten sind gar nicht erst als Druckstöcke konzipiert, obgleich Abzüge von den schwarz eingefärbten Platten durchaus möglich wären. Es handelt sich bei diesen Arbeiten um Flachreliefs vom Charakter gedruckter Grafiken, mit schwarzen Linien auf hellem, monochromem Grund oder umgekehrt. Prägnante Striche umreißen Leerformen, kennzeichnen Details und Flächen. Wie in den Zeichnungen schieben sich mehrere Bildkulissen über- bzw. ineinander und verschmelzen Dinge aus unterschiedlichen Bezugsrahmen. Maßstäbe, Perspektiven und Realitätsgrad differieren, mitunter bleibt unklar, was sich davor und was dahinter befindet. Ohne Information über Licht- und Schattenverhältnisse erscheint der bühnenartige Raum bizarr verflacht. Die Konstruktion des Bildgefüges unterstreicht die Paradoxie der dargestellten Situation. Dabei verursacht die Monumentalität bestimmter, auch gutartiger Figuren beunruhigende Gefühle.
Die Motive wurzeln in Märchen, Spielzeugkisten, Wohnzimmern und kleinbürgerlicher Idylle. Wolf, Hirsch und Hund, Gartenzwerge, Schaukelpferd, Teddybär und Rotkäppchen haben ihren Auftritt, dazwischen Tische und Stühle, Bauklötzchen und Grasbüschel. Kritzeleien zackiger Blitze und spinnwebenartige Vernetzungen verunklären die Szenerie, aus deren Gemenge bei längerer Betrachtungszeit die Vexierbilder geheimnisvoller Gestalten auftauchen: Pinocchio, Krokodil oder Schlage. In den hellen Holzschnitten mit präzisen Linien aus schwarzem Holzkitt weiten Materialschilderungen von Holz, Backstein oder Fliesen und historisierende Aspekte wie schmiedeeiserne Zierrate oder Biedermeiertapeten das semantische Feld. Folmer lotet explizit die Grenze zum Kitsch aus und schlägt ihm mit Hilfe abstruser Verquickungen ein Schnippchen. Er „stellt […] typische Klischees auf den Prüfstand“, indem er Kultfiguren des volkstümlichen Geschmacks als Akteure eines absurden Theaters entlarvt, das im gleichen Sinne Schönfärberei und Demaskierung als Ausdruckspotenzial in Anspruch nimmt.
Vektorgrafiken
Bei den ab 2018 entstandenen Vektorgrafiken auf Fotopapier wird das Druckergebnis wieder entscheidend. Die Zeichnung entsteht auf digitalem Weg, was außer einer körperlichen Arbeitserleichterung den zentralen Vorteil birgt, die Bildgröße nach Bedarf verlustfrei zu skalieren. Drucke in beliebigen Formaten sind möglich, auch in sehr großen. Zudem eignet sich diese Technik ideal zum Transfer von Bildmotiven in raumhohe Wandzeichnungen, die Wolfgang Folmer 2008 zum ersten Mal künstlerisch bewältigt – damals mit Hilfe von Projektoren, neuerdings mit Beamern. Seit 2022 setzt er in Kooperation mit Bettina van Haaren konstellative Raumkonzepte um. Neben den temporären, für die Zukunft anhand fotografischer Dokumentationen gesicherter Wandarbeiten beziehen sie auch gerahmte Grafik mit ein. Als umschließendes Raumerlebnis besonders intensiv wahrgenommen, vermitteln die in der Formensprache klar voneinander abgegrenzten Positionen im Dialog bemerkenswerte inhaltliche Berührungspunkte.
Im Erscheinungsbild korrespondieren die Vektorgrafiken mit den schwarzgrundigen Holzschnitten. Bald halten Buntfarben Einzug in die bekannten schwarz-weißen Ausführungen. Frequenz und Zuordnung der Farbflächen alternieren in den Einzelwerken zwischen Schwarz, Rot, Weiß und Lachsrosa. Die Signalwirkung dieser Farben erhöht unsere Alarmbereitschaft bezüglich der zerstückelten und sich antinomisch durchkreuzenden Dinge. Es gibt sie nicht, die heile Welt! Im schönen Schein lauert Unheil. Folmers Bilder senden subtile und komplexe Botschaften aus. Das Schlummerpüppchen gleicht einem toten Baby, angefahren von einem Jeep, platt gewalzt vom lustigen Schwein oder aufgebahrt inmitten einer Gruppe von Kindern. Der Zug zerfetzt den Motorradfahrer, das Schwein zerquetscht Kind, Zwerg oder Motorrad. Rotkäppchen mit aufreizend geschürztem Röckchen und gespreizten Beinen nimmt je nach Drehung eine Hock- Knie- oder Liegeposition ein, deren obszöner Beigeschmack im Hinblick auf sexualisierte Gewalt und Kinderpornografie bitter aufstößt.
Die Kompositionen werden immer dichter und undurchdringlicher. Das mit einem Potpourri aus Märchenfiguren, Kuscheltieren, Spielgeräten und Fahrzeugen postulierte Kinderglück gerät peu à peu ins Wanken und entpuppt sich am Ende als trügerische Illusion. Unschuld und Unbeschwertheit sind gefährdete Güter, unterschwellig schleicht sich das Böse ein und packt gerne auch offensiv zu. Wir müssen uns diesen Gegebenheiten stellen, den unumstößlichen, äußeren Tatsachen wie den subjektiv als reale Fakten empfundenen Erinnerungen und Gefühlen. Erkenntnis verlangt eine kognitive Beleuchtung des Gegebenen unter Berücksichtigung sinnlicher Eindrücke. Kunst bietet eine Möglichkeit, diesen Prozess zu vollziehen. Wolfgang Folmer nähert sich in seinem Œuvre dem Problem mit Spontaneität und Entschiedenheit. Von schönen und schmerzlichen Erfahrungen distanziert er sich durch experimentelle Verfremdungen, immer auf der Suche nach Aufklärung und Offenbarung unbekannter Parameter. So enthüllt er meist nur am Rande Registriertes und macht die Widersprüchlichkeit des Vertrauten auch für andere sichtbar.
Nachtstücke und Arien
Katalogbeitrag von Gerhard van der Grinten, „lichterloh“, 2022
Galerie Palais Walderdorff
Nun, bei der Erde und des Winds Verschweigung
Petrarc
Die Arglosen mochten die Photographie für wahr halten. Doch war dies immer schon ein Irrtum gewesen. Dabei: erst lange nach der Erfindung der Linsen und den Erfahrungen mit dem Phänomen der Camera Obscura, mit der sich beispiellos phantastische, wiewohl vergängliche Bilder auf die Wände zaubern ließen, wurde es mit der Errungenschaft fixierbarer Träger möglich, eine Abbildung jenes Lichtes festzuhalten, das durch ebendiese Linse gegangen war; eine Photographie, ein Lichtbild im wahrsten Sinne. Und damit überprüfbar, nicht nur flüchtige Erscheinung, was ein künstliches, technisches, nicht menschliches Auge wahrnehmen konnte. Bis dahin war aller festgehaltene Eindruck, sei es ein steigendes Pferd, die Wendung einer Tänzerin, die tumultuarisch verwirrenden Wasserstrudel auf den fabelhaften Zeichnungen eines Leonardos nur der Beobachtungsfähigkeit und Aufmerksamkeit ihres jeweiligen Autors zu verdanken und geschuldet. Man mochte die Phase glauben oder versuchen, sie beobachtend nachzuvollziehen. Oder sie selber mit dem Zeichenstift einzufangen. Und nun: war es möglich die komplexeste perspektivische Flucht, den Sekundenbruchteil der bewegten Volte nachzuvollziehen. Auch wenn die Länge der Belichtungszeit den Pionieren der Photographie noch stundenlange Geduld abverlangt hatte. Sich aber mit dem rasanten Fortschritt der Technik ebenso rasant verkürzte. Bis die schiere Menge der Bilder selbst das erneut bewegte Bild erlaubte, den ununterbrochenen filmischen Verlauf. Man erinnere sich: der erste aufsehenerregende Skandal des neuen Mediums bestand darin, dass die Zuschauer die schlichte, nüchterne Aufnahme eines einfahrenden Zuges in einen der Pariser Kopfbahnhöfe derart für bare Münze nahmen, dass sie in wilder Panik aus dem Saal der Vorführung zu flüchten versuchten.
Die Photographie, kraft ihrer Genese selbst, erscheint also wirklich oder doch zumindestens wirklichkeitsgetreu. Dabei ist die Geschichte der Photographie schon von ihrem Anbeginn an eine Geschichte der Manipulation, die des Filmes unmittelbar nach seiner Invention eine des filmischen Tricks, der Überwältigung durch das, was man glaubt. Oder glauben möchte. Oder soll. Auch gegen besseres Wissen. Denn die vollkommene Magie ist ja diejenige, die undurchschaut den Naturgesetzen spottet, selbst wenn das Gezeigte ganz offenbar unmöglich ist. Das Bild der Dinge ist aber nicht das Ding an sich. Es ist es nie. Sondern immer ein eigenes, eine weitere Entität für sich. Und der gemalte oder photographierte Apfel bietet keine erhebenden Geschmackserlebnisse, wenn man hineinbeißt.
Aber auch ganz abseits der Möglichkeiten des sublimen oder dreisten Betruges und der Täuschung, bedingt das menschliche Auge hinter der Linse den Blick auf das Bild. Weil jedes Bild notwendigerweise den Blick seines Schöpfers zeigt: es können derer nie zwei im selben Moment denselben Anblick sehen, dagegen stehen die Gesetze der Physik. Man müsste sich denn abwechseln. Dazwischen lägen immer Wimpernschläge, die die Welt weiter fortrückten. Und sich verändert. Und sei es nur um ein Nu. Und der, der schaut, sieht ja auch immer aus seiner individuellen Seherfahrung, die der Profession - der Cineast hat eine andere als der Bildhauer, der Maler, der Amateur -, die, die durch die persönliche Biographie geprägt und beeinflusst ist. Aufwuchs, Lebenserfahrung, Begegnungen, Verlust, Wissen, Geschmack, Vorlieben, Abneigungen, Aneignungen, Laune, Tagesform, Atemholen, Augenblick, einen Schmetterlingsflügelschlag in Peking.
Die Photographie hat Wolfgang Folmer sein ganzes künstlerisches Leben lang begleitet. Oder besser, er hat sie sich als Ausdrucksmittel früh nutzbar gemacht und angeeignet. Als Fundus von Bildeindrücken, als Prüfstein für das eigene Sehen, als zweiten Blick. Und die Wegesspanne reicht von der einfachen technischen Ausstattung zu Anfang, über die experimentellen Verfremdungen im Stadium der Bildentwicklung in der Dunkelkammer, bis zu den elaborierten Möglichkeiten der Verfremdung und Nachbearbeitung im Rahmen der digitalen Photographie. Die, was das einfache analoge Objektiv nie gestattet hätte, auch die Akkumulation von Bildern, das Rendering zu großen Prospekten erlaubt, die über das Gesichtsfeld des Photographen wie des Betrachtenden weit hinausragten, dahin, wohin den Augen zu reichen gar nicht mehr möglich wäre. Die Zeit einfrieren in ihrem Übereinanderblenden, Dinge ausfiltern, andere präzisieren. Weiten. Und über die ganze Fläche eine gestochene Tiefenschärfe werfen, die dem Focus einer Linse einzufangen verwehrt wäre, sei es der der Kamera oder der des biologischen Auges. Und darin Bilder mit Details auflädt, die der natürliche Blick verunmöglichte. Denn sähe man alles, was sich dem Blick bietet, auf einmal, so würde die schiere Menge der Eindrücke die Aufmerksamkeit derart fesseln, dass man sich gar nicht mehr vom Platze bewegen könnte. Für Dauer. Unser Sehen aber, das uns sich unserer Lebenswelt stellen und sie bewältigen lässt, zumal in Situationen der Gefahr, muss notwendig aus der Menge der sekündlich auf uns einstürzenden Momente selektieren. Sonst lenkten die Augen uns nur ab. Und wären nutzlos. Ja dem Überleben abträglich. So eingefroren aber bekommen die Augenblicke dauerhafte Fassbarkeit. Der konkreten Situation selbst enthoben, kann man sich als Beschauer der Reihe nach auf all das Angebotene konzentrieren - oder sich darin fasziniert verlieren.
Die Welt ohne Farbe, die Welt in reiner Schwarz-Weiß-Dichotomie verschärft in ihrer notwendigen Reduktion. Darin ist die Nähe zu seinen graphisch-zeichnerischen Arbeiten wohl am ehesten spürbar. Auch in den Sujets: nicht selten den verlorenen Dingen. Gehäufte davon manchmal, präsent und präsentiert, wiewohl entsinnt, da verlassen. Und damit ihrer Funktion verlustig. Zuweilen doppel- und hintergründig. Wo es etwa Kriegsspielzeug ist: ein Trüppchen miniaturisierter monochromer Kunststoff-Special-Forces, vollständig mit Stahlhelm, Bazooka und Schießgewehr. Lebensecht im Kleinen, in Habitus, Positur und Dienstgrad, aufgereiht auf einem Burgaufgang wie zu einer Revue der Ziegfeld-Folies, steigende Rösser dazwischen. Oder benebst dem Balettensemble der Matchbox-Schlachtkreuzer und Zerstörer mit ihren ausgelassenen 38cm-Zwillingsgeschütztürmchengesten. Man möchte sie fast mit Schmunzeln betrachten. Zumindest ehe man sich klarmachte, dass so ein kleines Plastikkerlchen mit seinem aufgepflanzten Bajonettchen auf seinem Sturmgewehrchen im Zweifel auch nichts anderes vorhätte, als einem anderen kleinen Plastikkerlchen die Plastikgedärme aus dem Leib zu schneiden. Dass in späteren Aufnahmen des Sinsheimer Technikmuseums die aufgebockten Flugmaschinen dann tatsächlich eher wirken, als wären sie nachlässig unaufgeräumte Spielzeuge, die so täten, als flögen sie, ist dann eine geradezu fabelhafte Koinzidenz.
Das aufgegebene Objekt ist stets ein Nature Morte. Ein Memento Mori. Ein Vanitassymbol. Und aller Hinterlassenschaft eignet die Trauer über die Conditio Humanae. Und so ist ein ramponierter Stuhl, entbeint, ein Invalide und ein Überrest, stets auch ein Nachrufer auf den, der einmal auf ihm gesessen ist und nun auch nicht mehr weilt. Doch gleichzeitig vermag die Ruine hier Schausteller zu werden, ein Akteur und Akrobat, der Kunststücke aufführt, die einem kompletten Exemplar seiner Artgenossen nicht zu Gebote gestanden hätten: tatsächlich wirkt dann sein vollständiges Gegenstück wie ein Poseur. Lichtschläge in der aufgelassenen Halle geben ihnen Raum und Bühne, als Kante zwischen Helligkeit und Schatten, die selbst ein so bildnerisches wie dramatisches Element ist in dem Geschehen. Und ohnehin: ein Lichtbild entsteht ja da, wo es die Dunkelheit ausleuchtet, ohne sie vollständig zu vertreiben.
Und dann gibt es ja tatsächlich das Verschwinden selber, das zum Thema wird. In der ausgreifenden Serie der Bilder aus der Wohnung der Frau Otto selig. Eine sehr persönliche Sicht auf die – für den Außenstehenden – vollgeramschte gute Stube der Erinnerungen, zwischen Nierentisch und Nippes und Spät-Gelsenkirchener Barock. Und die Verblichene, oder besser die allmählich Verbleichende ist da und dort noch anwesend, als Schatten, als Echo, als Erscheinung. Fast geisterhaft, fast nurmehr Protoplasma denn als körperliches Dasein. Das, was hinterbleibt, sind Sentimentalitäten, wertvoll und von tieferer Bedeutung nur für diejenige, die sie um sich versammelte, die ihren Kümmernissen abhalfen, Devotionalien, Kitsch. Doch erfüllt ja auch der Kitsch ein emotionales Bedürfnis, stopft dem Horror Vacui für eine Zeit das gähnende Maul. Hilft über die Abgründe und Verlorenheiten der Vergangenheit - und abgründig schimmert hier einiges - in eine endliche Zukunft, die vielleicht gar nichts anderes mehr ist, als der Schritt ins Dunkle. Alle Ordnung ist der letztenendes vergebliche Versuch, dem Zerfall Einhalt zu gebieten. Für eine Weile wenigstens.
Es überstehen die Vorräte, die niemand mehr braucht, weil sie niemand mehr verzehren wird, es sei denn, es findet sich ein Aufmerksamer für diesen anrührenden Schatz. Es übersteht der Fundus an Materialien, mit denen man das längst zerfahrene Fahrrad instand setzen könnte, täte das denn wer. Oder hätte er es längst getan. Die unnütze Akribie des Nützlichen. Und dann setzen die Bilder ein, in denen sich die Gegenstände, über- oder übereinander belichtet oder ins Negativ verkehrt, zusehends auflösen und ganz Schattenspiel werden. In dem die Bedeutung der Formen nachruft, wie aus einer fernen Erinnerung. Sich der Fassbarkeit immer weiter entziehend. Bis sie reine graphische Ereignisse werden, Strukturen, Rapporte, Linienhaufen, Schwarz und Grau und Weiß. Wie jene, die einmal menschliche Gestalten waren, jetzt aber Phantome sind, von Aureolen umgeben, spukhaftes Negativ. Als wären sie nicht sie selbst, sondern die Aufnahme der Kirlian-Strahlen, die sie umgäben.
Ist die farbige Welt wahrhaftiger? Zumindest wirkt ja jener blaugekleidete Herr mit dunkler Haut vor einer Schüttung unterschiedlich grauer und extravagant gelber Platten, schräg von oben betrachtet, eigentlich eher wie eine besonders raffinierte Komposition des holländischen Konstruktivismus. Aber auch, wenn sich die Wirklichkeit besser gibt als echt, bedarf es des empfindsamen Auges, das solche vollendeten Künstlichkeiten sieht und bemerkt und für wahr nimmt. Vier Baumschlümpfe hinter einer Leitplanke. Oder die auf den Kopf gestellten Reflexionen von Seenspiegeln, samt dessen, was sich darin spiegelt und in der Spiegelung, gleichwohl sie farbentsättigt sind, leicht verzogen und gewellt, und sich in ihren dunklen Zonen die Untergründe des Wassers, nicht der Himmel zeigen, die also, obwohl sie die Dinge verkehren, nicht weniger überzeugend wirken, als die Wirklichkeit. Eher mehr. Diese aber für sich selber, wenn man sie denn wieder ins richtige Lot dreht, verliert gegen die Tiefe der Teiche.
Von da geht der Weg zu den zunehmend großformatigen Landschaften. Wobei man wohl vielmehr von einer Summa des Landschaftlichen reden sollte. Überwiegend sind sie menschenleer. Und wo nicht, sind jedenfalls nicht die wie beiläufig vorhandenen Personen das wesentliche Agens. Aber dann doch in ihrer Abwesenheit, ihren Hinterlassenschaften und Vehikeln, Räder, Automobile, in vollendeter Ordnung abgestellt und geparkt. Aber, da sie ruhen, plastischer Gegenstand. Kein Gewese. Überwiegend sind es nächtliche Ansichten, dem kommt der fehlende Publikumsverkehr entgegen. Wohl aber sind die Signale in Betrieb und leuchten über Straßen, die kein Mensch befährt. Flutlichter hellen Tennis- und Fußballplätze aus. Als bedürften jene ganz entseelt den Trost und Beistand von Licht. Gleißendes Strahlen über Baustellen, über die sich Kräne wie Wachen erheben oder gigantisch fremde Maschinen aus einem Science-Fiction-Film. Zur Ruhe gelegte Kirchplätze und Innenstädte. Baumpflanzungen in Reih und Glied als wären sie zum Appell angetreten. Eine Unterführung, aus der es derart in die nächtliche Umgebung gleißt, als befände sich dort der mythische Übergang in eine andere Welt. Es wäre auch gar nicht auszuschließen, dass dem so ist.
Notwendigerweise ist das Licht gefiltert und verstärkt. Und verwandelt dadurch die Umgebung ins Kulissenhafte. Bahnhofsvorfelder mit Stellhäuschen, Geleisen, Verladerampen, so episch wie leer und darum dysfunktional. Zäune, die Unbefugte abhalten sollen, die aber gar nicht da sind mit der Absicht, sie zu übertreten. Manche Hausfassade scheint gegen einen tintenschwarzen Himmel wie aus einer Malerei von Radziwill entwischt. Vergrößert noch ins Riesenhafte geschieht dies in den Überschauen über die JVA Stammheim, das Bosch-Betriebsareal, das AKW Neckarwestheim. Und die schiere Ausdehnung der Gebäude, der Aufwand ihrer Erleuchtung im Gegensatz zum völligen Mangel an jenen, denen das Licht dienlich sein könnte, gerät vollkommen irreal. Nicht weniger als das aquariumgrüne Licht, das das Vorfeld eines bekannten Pflanzenmarktes in eine bizarre Unterwasserwelt verwandelt. Oder den Park des Rosensteinschlösschens in die ausgeleuchtete Kulisse eines geisterhaften Rokokospektakels. Hingegen sind die erleuchteten Nachthimmel über den Städten echt. Tiefdunkles Strahlen. Auch wenn es hinter einer Baumlinie auftaucht wie ein stiller Weltenbrand, ein künstliches Morgenrot. Lichtverschmutzung nennt sich das im Fachbegriff. Und macht als Phänomen die Beobachtung des Firmaments an vielen Orten der sogenannten Ersten Welt inzwischen unmöglich. Von der Irritation der Lebewesen, die zu ihren Schlafenszeiten damit behelligt werden, gar nicht zu reden. Da wirkt die Welt selber dann künstlich, um nicht zu sagen kunstgewerblich.
Schön sind die Bilder, schön ist die Welt, die sie zeigen, das, was der Mensch aus ihr macht, gewisslich immer nicht. Bedenklich schon. Bedenkenswert in ihrer lichten Lohe. Lichterloh.
"Wolfgang Folmer, Fotografie und Zeichnungen"
Katalogtext von Franz Joseph van der Grinten, 1994
Der Arbeit Wolfgang Folmers scheinen die Kraft und die Fülle des Barocks eigen zu sein. Aber die Fülle des Barocks ist nichts Anderes als der leidenschaftliche Wunsch, der Wirklichkeit habhaft zu werden, und seine Kraft ist keine andere als die der Intensität dieses Strebens. Fülle ergibt sich aus der Erstreckung des Bewusstseins in alle Richtungen, und sie bedingt Brüche und Verwickeltheiten. Kraft ist die, die sich potenziert, indem sie sich erschöpft: der göttliche Raubbau, ein Austausch, alchemistisch quasi. De facto bewirkt er Reichtum. Dünnhäutig war das Barock, krisengeschüttelt, der Wunsch modifizierte die Wirklichkeit, und es war eher Melancholie, die sich in die Farben diesseitiger Festlichkeit kleidete, todumfangen das volle und ganze Leben, und der Tod der letzte Triumph, man bereitete ihn passend vor, und selbst die Askese war auf ihre Weise ausschweifend. Realitätsversessenheit aus Verunsicherung, Aneignungsgier aus dem Bewusstsein, nichts in Ewigkeit halten zu können, Akzeptanz der Vergänglichkeit als Billett fürs Überdauern, die Wirklichkeit so heiß ersehnt wie grübelnd in Frage gestellt. Kraft, die sich um sich selbst dreht, rhythmisch, wie es ihr sich zu gehören scheint. Vitalität und Melancholie stehen zueinander in einem intimeren Verhältnis als man vermuten möchte. Das Ganze ganz: es gibt sich nur im Teil, das man zu fassen vermag, und nur auf Zeit, wie man sich selbst bewegt in der steten Bewegung der Welt, der letztlich selbstgeschaffenen, um einen her. Ein dauerndes Schaffen mit sich wandelndem Bewusstsein, wechselnden Bedürfnissen, unvorhersehbaren Betroffenheiten. Empfangen und Senden in Permanenz. Das innere Auge, das Sinnesorgan, die Kamera; die Motivation, Hand und Gerät, der Hebel oder Knopf. Das Licht der Erkenntnis und das Licht der Lampen. Mit dem ersteren, aus dem Wissen, dass in der Dynamik des Seins nichts wirklich statischen Bestand haben kann, dass aber nichts, was war, wirklich aufhören kann, zu sein, vertieft sich Wolfgang Folmer in die Erscheinungen der Welt, und seinem Blick schieben sich die Gegebenheiten aus Raum und Zeit übereinander, die gewachsenen und die artifiziellen, die weit vergangenen und die gegenwärtigen, die denkend zu Form und Ausdruck gebrachten und die in Verfall und Flüchtigkeit sich auflösenden. Unersättlichkeit des Blicks, Schärfe der Durchleuchtung. Was in der Weite nicht fassbar wäre, schichtet sich transluzid in eine eigens sich auftuende Tiefe. Raum und Zeit aufgehoben in so etwas wie Palimpseste. Die Außenwelt wird zur Innenschau, das Bewusstsein ist ein Arsenal. All dies lässt Wolfgang Folmer vor allem graphisch geschehen: in Suiten von Photographien, im Übereinanderblenden von Dias, in der Offenheit von Wahl und Folge, in der Entbindung von den zielgerichteten Willensimpulsen. Vor allem im Zeichnen aber denn auch, mit Graphit oder mit Kohle, dicht meist nicht nur durch die Anreicherung der Schwärze, sondern vor allem und oft durch das Eintragen der einen Gegebenheit über die andere. Die Welt erfährt und behält Transparenz schon in der Sichtdurchlässigkeit des gewählten Papiers.Hier und heute ist das Abendland, aber es ist ein Ganzes in diesem seinem Zeit- und Raumkontinuum. Ein persönliches Ganzes, das Wolfgang Folmer aus Gewordenheit und Sein zu eigene. Dass all dies so kraftvoll lebenshaltig ist, ist seinem zeichnerischen Rang zu danken, der Disziplin, der Lust am Zeichnen, der inneren Notwendigkeit, es zu tun. Hinsichtlich des Eiskunstlaufens spricht er von der Richtungswahl durch Gewichtsverlagerung von einem Fuß auf den anderen. Sein Zeichnen ist körpergeboren, als geschähe es wirklich mit den Füßen, mit Füßen freilich, die in höchstem Maße verfeinert wären auf diese zeichnerische Handschrift hin. Palimpsest, Synthese: erfahrener Lebensraum; im Wortursprung fuhr man wirklich, um zu erfahren. Alles ist unsere Welt zugleich: der Strahlenglanz der Heiligen und das Leuchtbild auf dem Fernsehschirm, das Schwert und der Colt, der Ephebe und die Madonna, der Engel und das Flugzeug. Ausschnitte, Vergrößerung, Überlagerungen, Phasen, ein Prozess: definitiv zur Frucht gemacht ist Wolfgang Folmers Methode in denHolzschnitten und Radierungen. Die Holzschnitte erzielen ein dichtes Helldunkel, in dem alle Schattentiefe sich aufhebt in den Gegensatz von reinem Schwarz und reinem Weiß, nah und fern zugleich, aber nicht dazwischen. Er fügt sie aus Einzelbildern zusammen, ehe er sie schneidet, und indem er, was der umgebende Hintergrund des Blattes wäre, wegfallen lässt, gewinnt er ihnen eine körperhafte Einheit. Ist hier das dichte Dunkel der Homogenität des Bretts zu danken, so bei den Radierungen der Dichte von Nadelstrichen, die, kaum moduliert, von einheitlicher Stärke sind und, tief gegraben, der Dunkelheit den Vorrang geben. Zitate von Wirklichkeit, Zitate von Geschichten, Zitate von Wachstum und Dasein wie von Vergänglichkeit und Gedenken. Von, um es zum Schluss noch einmal zu sagen, barocker Üppigkeit, vital, aber tief verschattet, und selbst den flüchtigen Bezeugungen vom Fernsehschirm her ist in der handfest bleibenden Lockerung der Strichstruktur eine bannende Präsenz gegeben.Augustinus sagt: Die Vergangenheit ist nicht, und die Zukunft ist nicht, und die Gegenwart ereignet sich auf der Grenze zwischen beiden. Wolfgang Folmers Arbeit wird auf dieser Grenze geleistet. Es ist eine dynamische Grenze, ihre Balance hat sie aus den Reichen, die an ihr aufeinandertreffen als zwei Bewusstseinsebenen des Einen, das Alles ist.
V. Ellwanger Kunstausstellung 2012
Katalogtext von Dr. Eva-Marina Froitzheim
Wolfgang Folmer konfrontiert den Betrachter in seinen großen Holzschnitten mit Motiven, die in den Tiefen deutscher Volksromantik wurzeln. Nach und nach geben sich dem betrachtenden Auge ein Hirsch, ein Bullterrier, Schweine und Dackel, in den 70er Jahren der Lieblingshund aller Deutschen, zu erkennen. Folmer zitiert archetypische Bilder des Deutschen, die je nach Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht als Ausdruck gelebter Volkstümlichkeit und echter Gemütlichkeit geliebt oder gerade wegen dieser Konnotation strikt abgelehnt werden.Die Tiere sind gepaart mit niedlichen Puppen und Bären, deren sichtbar belassene Nähte sofort die verschämte Assoziation an aufzuschlitzendes Spielzeug wecken. Die märchenhaften Elemente, wie die als Bremer Stadtmusikanten auf einem Tisch aufgetürmten Tiere, sind in der Zusammenführung mit den anderen Gegenständen in den bizarren Szenarien auf ihren meist grausamen Kern, der den meisten Märchen innewohnt, zurückgeführt. Das bühnenhafte Geschehen kippt Folmer komplett in die Fläche. Tische, auf denen die Gegenstände häufig arrangiert werden, unterstreichen die Künstlichkeit der Situation und entlarven das Ganze als Konstruktion des Künstlers.Alles wird zusammengespannt in ein licht- und schattenloses Szenario, klaustrophobisch eingepfercht in mit Paneelen und Backsteinen abgeriegelten Räumen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Die groteske und bösartige Szene, die sich hart am Rande des Kitsches bewegt, wird von einer messerscharfen Linie zusammengehalten. Sie alleine grenzt die durchgängig schwarz gedruckten Flächen voneinander ab, bzw. verbindet sie miteinander.Auch wenn die einzelnen Gegenstände benennbar sind, müssen die Dinge nicht sein, was sie zu sein vorgeben. Umgekehrt stellt Folmer typische Klischees auf den Prüfstand. Das scheinbar klare und benennbare Bild der Wirklichkeit kippt in diesen Holzschnitten ins Absurde und verlangt vom Betrachter eine eigene Stellungnahme.Die Holzschnitte hat Folmer aus 8 mm dünnem Sperrholz herausgearbeitet. Das preiswerte und brüchige Material birgt das ständige Risiko, mit einem zu starken Schnitt die Platte zu zerschneiden - auch das ein Bild für die Fragilität der Weit und der Szenarien, die Folmer vorführt. Folmer nutzt die ganze malerische Bandbreite des modernen Holzschnittes und bezieht bewusst populäre Ausdrucksformen, wie z .B. aus dem Comic, mit ein. (E M.F)
Mit Zwergen groß geworden
Zu Wolfgang Folmers Arbeiten der neunziger Jahre
Katalogtext von Beatrix Rey
In Holunderbüschen, sagt man, wohnen Zwerge. Sie tummeln sich dort mit manch anderen märchenhaften Gestalten, sprechen zuweilen die Menschen an. Aber wie kommen die Zwerge von dort in jene Kaserne, die die Nazis bauten? Die Eberhard - Ludwig - Kaserne im Westen von Ludwigsburg liegt inmitten eines Industriegebietes, keine Holunderbüsche weit und breit. Auch sonst erinnert nichts an eine märchenhaft phantastische Welt. In der Kaserne befindet sich das Zollamt, die Hundestaffel der Polizei, die Kreisergänzungsbücherei und ein griechisches Lyzeum. Im Dachgeschoss der Kaserne richtet sich Wolfgang Folmer 1996 neben anderen Künstlern sein Atelier ein. Er legt Wasserleitungen, montiert Lichter, aber die Heizmöglichkeiten bleiben dürftig. Das kalte Dachgeschoss war einst nur für soldatische Leibesübungen gedacht. Die verbliebenen Piktogramme an den Wänden erinnern an einen Trimm - dich - Pfad. Aber Folmer hat anderes vor, zieht im Winter zwei Skianzüge übereinander und zeichnet mit laufender Nase. Der dritte Winter ist besonders kalt. Bisher hat Folmer vorgegebene Bildwelten umgepflügt und äußere Gegenständlichkeit beackert. In diesem Winter wendet er sich seiner inneren Gegenständlichkeit zu.Schwungvoll wagt er sich an große Formate: Kohlezeichnungen und bald auch Pastelle. Eine Fülle innerer Bilder treibt ihn. Bilder der Kindheit und Jugend mischen sich mit den Bildern der gegenwärtigen Kriegsschauplätze.Das Kind Wolfgang Folmer überragt manche Gartenzwerge seines Vaters nur um wenige Zentimeter. Aug in Auge steht er ihnen gegenüber. Die Zwergesaugen wachen über die Rosenzucht des Vaters. Allzeit wachsam beobachten sie das Kind. Diese Fernrohre des väterlichen Blickes rufen: "Berühre die Rosen nicht"! Vor den Dornen hätte das Kind keine Angst, aber vor den Augen des Zwerges fürchtet es sich. Der Wächter - Zwerg ist eine Kinderscheuche, die sehen, womöglich auch sprechen kann und vielleicht zum Verräter wird. Der Zwerg ist ein wenig kleiner als das Kind, aber dank seiner beobachtenden Augen mit einer immensen Macht ausgestattet, mit einem großen Geheimnis. Mit dem spielt man nicht. Zwerge wohnen natürlich vor allem im Märchen. Das Kind Wolfgang Folmer hört die Märchen gern von der Mutter, obwohl der Junge sich in dieser oft grausamen Märchenwelt nicht wohl fühlt. Für den Märchengarten in Saarbrücken wird er fein angezogen, wie zur Kirche. Der Knabe betritt den Garten mit dem feierlichen Ernst der festlichen Kleidung. Er schreitet durch die fremde aufgestellte Welt. Überlebensgroß schauen Schneewittchens Zwerge auf den kleinen Wolfgang herab. Nur über die Pilze kann er gerade noch hinwegsehen. Nichts darf er anfassen, nichts verändern. Er tastet sich mit den Augen durch die stille, bunte Figurenwelt. Sie ist voller Geheimnisse. Er sieht, fühlt und fürchtet, dass es mehr darüber zu wissen gibt, als er weiß. Von den Erwachsenen so seltsam ernst genommen gibtihm diese aufgestellte Zwergeswelt Rätsel auf.Mit seiner Kindheit lässt Folmer die Welt des Märchengartens sowie die feierliche Grausamkeit der Zwerge erst einmal hinter sich. Doch aufgestellte phantastische Welten gibt es auch für Erwachsene jede Menge - zumindest in Folmers Heimat. Er entdeckt diese Eigenart seiner saarländisch-lothringischen Wurzeln aus dem Abstand des Studienortes. In den Semesterferien kommt er und fängt sie mit dem Fotoapparat ein. Zunächst sind da die Sofas der Nachbarin "es Otto, Anna": dort türmen sich Teddys, Stofftiere, Puppen und Porzellanfiguren neben Sofakissen und dem in Samt gekleideten Telefon, verdeckt von Strohblumengestecken und dicht überhängt mit Puzzlespielen in Zierleisten gefasst. Eine barock wuchernde Fülle auf engstem Innen-Raum. Das Pendant im Außen-Raum spiegelt sich in der Verkaufsausstellung eines Baumarktes. Was dort an klassischen Formen, Säulen, Treppen, Becken und Figuren aus weißem Plastik angeboten wird, stellen sich die Leute in den Vorgarten. Das immer gleiche Formen-Repertoire variiert nur durch die Auswahl und die Anordnung zu neuen Vorgarten-Bildern: oft genug furchtbar unpassende, beziehungs- und seelenlose, zusammengestückelte Bilder. Folmer beschäftigt sich mit diesem versponnenen Alltags-Spleen seiner Heimat. Hier im Grenzland gibt es seltsame Überlagerungen, Anhäufungen, Fremdheiten der Dinge und Figuren. Er findet jede Menge versuchte Ordnungssysteme. Folmer entdeckt: man kann alles nehmen, es ist eine Fülle da, man kann alles umdeuten ineinander projizieren und beseelen. In der Zusammenstellung und Anordnung liegt die Aussage. Solches Denken zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, durch die verschiedensten Arbeitstechniken. In seiner Heimat prägte die Stahlindustrie das Bild. Die Förderanlagen der Gruben und die Hochöfen der Hütten wirken wie riesige, unheimliche Tiere, die auf dem Boden schnüffeln, abends umspannt von einem phantastisch roten Himmel, dem feurigen Wiederschein der Hochöfen. In der lothringischen Tellerlandschaft sitzen einzelne Baumgruppen, Haufendörfer oder Feldherrenhügel wie auf dem Präsentierteller. Diese Landschaft ist zur Aufstellung von Heeren - zum Kriegführen - bestens geeignet. Die endlosen Reihen aufgestellter Soldatenkreuze bei Verdun zeugen von jenem vernichtenden Höllenfeuer.Schon früh beschäftigt Folmer die Grausamkeit der Menschen im Krieg. Immer wieder sucht er das nahe seiner Heimat gelegene Verdun auf. Er besucht das Kriegsmuseum und verarbeitet später die dort entstandenen Fotos und Videos in seiner Kunst. Die Granaten aus den Vitrinen von Verdun tauchen mit den inneren Bildern des Künstlers auf großen Kohlezeichnungen auf: in der Eberhard - Ludwig - Kaserne, in jenem dritten kalten Winter. Sie treffen dort auf die Zwerge aus Folmers Kindheit und verbinden sich seltsam leicht mit diesen kleinen Ungeheuern und ihren rätselhaften Drohungen. Die Zwerge halten Einzug in Folmers Bilderwelt. Mit diesen Figuren findet er eine stille Sprache, die Ungeheuerlichkeiten der Erwachsenenwelt, die Grausamkeiten und die großen Rätsel unserer Zeit auszusprechen. In die Zwergwelt projiziert Folmer sein Weltverständnis,seine Versuchs - Anordnungen von Weltverständnis. Im bildnerischen Spiel mit den Zwergen, spielt er die Welt nach, um sie sich zu erklären, um sie zu begreifen: die gegenwärtigen Kriege vor dem Hintergrund der vergangenen.Mit Krieg hat sich auch der große lothringische Grafiker Jacques Callot auseinandergesetzt, im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts arbeitend. Auf seinen Zeichnungen drängen sich eine Fülle von Gegenständen und Figuren, eine Fülle, die wir bei Folmer eher auf vielen Blättern verteilt finden. Lothringisch-saarländische Verwandtschaft zwischen den beiden Grafikern findet sich insofern, da man einige von E.T.A. Hoffmanns Bemerkungen über Jacques Callot genauso gut auf Folmer anwenden kann: so attestiert der Dichter Callot "Zauber einer überregen Phantasie", wundert sich, dass ihm Callots "Gestalten, oft nur durch ein paar kühne Striche angedeutet, nicht aus dem Sinn" kämen und stellt fest, dass bei Callot unter dem "Schleier der Skurrilität geheime Andeutungen verborgen" lägen.(s. E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier)Ausgehend von den ersten Zwergbildern entstehen bei Folmer endlose Variationen und zusammenhängende Bildfolgen, indem er seine Kohlezeichnungen auf leere Blätter überträgt. Die Originalzeichnung lässt sich einfach auf das neue Blatt abreiben und findet sich dort als blasse Zeichnung wieder. Auf dieser Grundlage können die Motive nun verändert werden: Teile werden weggelassen, neue hinzugefügt. Bei dieser Kohle - Abklatsch - Technik entsteht das Bild aus dem Bild, welches aus einem wieder anderen Bild entstandenist usw. ...Aus der Fülle des Bildmaterials und der Bildmotive schöpfend gelingt es Folmer, der sich bisher hauptsächlich als Zeichner verstand, Themen farbig aufzugreifen und auszuarbeiten. Ungewöhnlich große Pastelle entstehen in Farben einer phantastischen Welt. Ein besonderes Braun kommt zum Einsatz: eine billige Pastellkreide aus tonartigem Material erschafft Bäume und Wälder, in denen längst nicht mehr nur Zwerge leben, sondern allerhand märchenhafte Wesen. Aus dem Holunderbusch werden Holderbäume, Holderwälder und daraus hölzernes Baumaterial, aus dem wieder neue Figuren gezimmert werden. Die Zwerge mutieren teils in Pinocchiofiguren, die mit ihren aufgesteckten langen Nasen hölzern durch die Bilder stolpern. Eine weibliche Variante kommt hinzu: die Holzstock-Baumfrau hat drei Brustpaare und teils eine Pinocchionase. In ihrerbreitbeinig sitzenden Haltung kippelt sie und findet auch mit ihren abgesägten Armen und Beinen keinen rechten Halt. Von den vorgefundenen, äußerlich aufgestellten Welten sucht Folmer den Weg zu seinen inneren ständig neu entstehenden Fantasiestücken. Weit davon entfernt, etablierte Einsichten und vorgefertigteIdeen in Zeichnungen zu illustrieren, zeichnet er Gedanken, Ideen, Eindrücke, die durch ihn hindurch gegangen sind und sich so verändert haben, phantastisch geworden sind und auftauchen, wenn ihre Zeit reif ist. Die von Folmer geschaffenen phantastischen Welten haben eine Kindheit, eine Heimat, Nachbarn und Vorfahren unddoch erschöpfen sie sich nicht in diesen.
Der Sturm Lothar und Folmers Baumstämme
Katalogtext von Beatrix Rey
Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft wie ein Vers im Psalter,ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.
Rainer Maria Rilke*
* aus: Buch der Bilder, II. Buch, 2. Teil: "Der Schauende" 2. Strophe
Rhythmisch klangvoll fegt der Sturm hier die Zeilen entlang. Nur Rilkes Bild vom "Vers im Psalter" ist uns heute fremd. Gut 100 Jahre nach Niederschrift des Gedichtes erinnern wir uns kaum noch an biblische Zeiten, wenn wir eine Sturmlandschaft sehen. Längst wissen wir, dass unsere Stürme und Flutkatastrophen selbstverschuldet sind. Beim Gestalten und Umgestalten der Natur arbeitet der alttestamentliche Psalter-Gott nicht mehr alleine. Wir haben ihm einen Teil seiner Arbeit abgenommen. Die Wetterkapriolen häufen sich. Sie stellen viele Sicherheiten in Frage. Der Wald und unsere Zeit wird umgestaltet. 2001 gestaltet der Sturm Lothar die deutschen Wälder um. Überall ausgestreute Mikadospiele: auch die kräftigen Stämme nicht nur die kranken liegen da. Der Name Lothar ist mittelhochdeutsch und heißt frei übersetzt: "lautes Heer". Und tatsächlich sehen die Wälder wie Schlachtfelder aus, über die ein lautes Heer dröhnte und kräftige Krieger hinter sich liegen ließ. Auch am Neckarufer bei Marbach liegen einige schwere Baumstämme auf den Wiesen, als Folmer dorthin zum Bildhauersymposium eingeladen wird. Die herumliegenden Baumstämme sprechen ihn an, mit ihnen will er arbeiten, sie gestalten, er weiß noch nicht wie. Zeichne einen Baum, zeichne einen Menschen. Kaum ausgesprochen entstehen Bilder in unseren Köpfen. Aber die Bäume und die Menschen stehen, in unseren Köpfen und auf unseren Bildern stehen sie. Wer beschäftigt sich schon mit den Liegenden? Manchmal aber liegen sie auch, die Menschen und die Bäume: bei Krankheit, Tod und Geburt. Dann werden sie umgestaltet. Menschen liegen auch beim Lieben. Der Liebes-Sturm, ein Umgestalter. In seiner Kindheit war Folmer viel mit dem Beil unterwegs. Er streunte mit seinen Geschwistern und anderen Kindern am Grenzfluss zu Frankreich herum und fällte junge Akazien. Die Kinder bauten daraus Baumhäuser und wehrhafte Burgen. Sie schätzten den geraden Wuchs der Akazien, die astlosen Stämme waren gutes Baumaterial. Von zu Hause kannte Folmer nichts anderes, sein Elternhaus wurde jahrelang umgebaut, war immer eine Baustelle. Bäume, ein gutes Baumaterial. Ja, aber nicht nur das. Folmer hatte durchaus auch Sinn für die lebenden Bäume. Im Wald stellte er sich gerne nahe an sie heran, spürte mit der Hand ihre Rinde oder umarmte sie, um eine Weile die aufsteigende Lebenskraft zu fühlen. Er sah auch kranke Bäume mit freigelegten Rinden und entdeckte die Fraßspuren der Larven von Borkenkäfern. Diese Futterwege der kleinen Tiere faszinierten Folmer als Zeichnungen. Später fotografierte er sie, machte Frottagen und Drucke davon. Solche Borkenkäfer - Zeichnungen sieht Folmer nun auch in Marbach auf den liegenden Stämmen. Und so fängt es an. Folmer entschließt sich, diesmal selbst auf den Stämmen zu zeichnen. Dazu muss er zunächst die Rinde entfernen, um dahin zu kommen, wo es auch den Larven am besten gefällt, wo der Stamm schön weich und glatt ist. Folmer stößt, hebelt und zieht die Rinde weg. Zuerst legt er nur kleine Stellen frei und schneidet die ersten Zeichnungen in den Stamm. Bald geht ihm der Platz aus und er zieht größere Streifen Rinde ab. Die kahlen Stämme und daneben die Rinde: das liegt jetzt da wie geschälte Früchte auf einem Küchentisch. Das Messer gleitet weiter dahin, gestaltet immer neue Zeichnungen. Ein gefundenes Fressen, so viel Platz für Holzschnitte. Die Bildideen fließen aus ihm heraus, als habe er einen Bleistift in der Hand. Dann will Folmer die Holzschnitte abdrucken, stößt auf Schwierigkeiten, denn die gewölbte, bucklige Oberfläche lässt sich nicht so einfach abwalzen. Das Papier reißt. Er gibt nicht auf, entwickelt neue Techniken mit speziellem angefeuchtetem Papier. Es klappt. Die Holzschnitte sind als Drucke gesichert. Da zögert Folmer nicht, die Zeichnungen vom Stamm zu schälen. Der Stamm wird um einen Jahresring dünner und Folmer hat wieder Platz für neue Holzschnitte. Der Vorgang wird sich noch ein paar Mal wiederholen: mehr und mehr Holzschnitte auf immer dünner werdenden Stämmen.Der Umgang mit Baumstämmen bekommt seit Marbach einen großen Stellenwert in Folmers Werk. Schon zuvor entwickelte er eine Vorliebe zur Projektarbeit. Eine Einteilung der künstlerischen Schaffensphasen nach Orten war bei Folmer seit jeher sinnfällig. Immer wieder arbeitete er an unterschiedlichen Orten intensiv bis exzessiv ein paar Wochen oder Monate lang. Folmer lässt gerne zu, dass seine Arbeit von äußeren Gegebenheiten beeinflusst wird. Seine weiteren Baumarbeiten sind immer Vor - Ort - Projekte. Betrachter von Folmers Baumstämmen fragen immer wieder, ob diese nicht später aufgestellt würden. Aber nein, sie bleiben liegen. Der Künstler mag den Widerstand und die Statik des liegenden Kolosses. Gleichwertig liegen die Motive nebeneinander, sie können von links nach rechts und umgekehrt gelesen werden. Man kann aber auch unvermittelt über den Stamm steigen und auf der anderen Seite weiterlesen. Dem Liegenden nähert man sich anders: man lässt sich anstecken von der Ruhe, man sucht keine Konfrontation, keine Konkurrenz wie zu etwas Gegenüberstehendem. Behutsam und fragend nähert man sich Liegenden, wie man an das Bett eines Menschen tritt, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Man bückt sich vielleicht, aber nicht untertänig, sondern eher forschenden Sinnes. Ein Gespür entsteht für die unausgesprochenen und die unaussprechbaren Dinge. Kein Baum wurde je für Folmer gefällt. Er bekam die vom Sturm gefällten, die vom Förster aussortierten, die unbrauchbaren, die vom Borkenkäfer zerfressenen Bäume. Oder er bekam den Baum, der die Grundfesten eines Hauses bedrohte und schließlich weichen musste. Keine Siegerbäume also. Folmer erhebt ihr Liegen auf kleine Pflöcke. Er begleitet ihr Sterben, er entkleidet sie, befreit sie von der Rinde, er beschleunigt ihre Auflösung und gibt ihnen doch etwas Zeit und Beachtung zurück. Folmer gestaltet das, was er vorfindet. Er geht auf Angebote ein. Dass es gerade aussortierte Baumstämme sind, dem misst er keine übermäßige Bedeutung zu. Er sieht sich weder als Umweltapostel noch als Samariter oder Weltverbesserer.Und doch ist es kein Zufall, dass Folmer ausgerechnet nach diesen vom Sturm bezwungenen Bäumen greift. Als aufmerksamer Beobachter des Weltgeschehens ist er betroffen von den verschiedensten stürmischen und katastrophalen Veränderungen, dem Verlust von Sicherheiten und unberührter Natur. Der Bestand der Natur ist heute ebenso gefährdet wie persönliche Anschaffungen: ob eine Flutkatastrophe das neu gebaute Haus zerstört oder ein Computervirus das Betriebssystem angreift. Wer neue Krankheitsviren besiegen will, jagt einem Phantom nach, da sie sich verändern, ihre Formen, ihr Verhalten und ihre Angriffstechniken. Ähnlich aussichtslos scheint der Kampf gegen Terroristen. Die Bombe kann überall losgehen, jeder kann betroffen sein. Rückzug ist kaum möglich. Elfenbeintürme gibt es nicht mehr. Folmers Betroffenheit spiegelt sich in seiner Bilderwelt. Figuren hängen kopfüber an dünnen Fäden. Die Sonne und ein Baum sind notdürftig aus Dachlatten gezimmert. Auf einem Auto reitet ein Dreirad. Die langen Ohren des Hasen schweben abgesägt über ihm. Der Hund hat sich das Maul mit hot dog vollgestopft. Auf dem Tisch brennt eine Grasnarbe. Skurrile Traumpoesie, in der das Heitere dem Alpdruck Parole bieten kann und das Komische dem Tragischen den Wind aus den Segeln nimmtStürme des Unbewussten drängen in Folmers Bilder. Sie rütteln an Sehgewohnheiten und scheinbar fest Gefügtem. Verwehte Teile und Figuren finden sich zu neuen Ordnungen, denen Folmer eine eigene Gesetzmäßigkeit gibt. Stürme von Ideen jagen durch seine Hand auf die Stämme: eine sprudelnde Fantasie, die sich einer kindlichenDarstellungsweise bedient. Mit holzschnittartiger Vereinfachung sucht er das Lebensgefühl in einer immer komplizierter werdenden Welt zu fassen. Primitive Figuren werden in komplexe Zusammenhänge gestellt. Die Wiederkehr der mutierten Figuren, die Mühelosigkeit und Leichtigkeit der Bildfindungen entpuppt sich als Virtuosität. Das Leichte der Bilderwelt findet sich auf der Schwere der Stämme. Das Leichte ist schwer.
ARS SOLVENDI - die Kunst des Loslassens
Eröffnungsrede von Helmut John
Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, darin du mich so eilen siehst. Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde, ich bin nur einer meiner vielen Munde und jener, welcher sich am frühsten schließt. Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen, die sich nur schlecht aneinander gewöhnen: denn der Ton Tod will sich erhöhn Aber im dunklen Intervall versöhnen, sich beide zitternd. Und das Lied bleibt schön. Rainer Maria Rilke* *aus: Das Stundenbuch, I. Buch: Das Buch vom mönchischen Leben
Ich hatte das ergreifende Erlebnis, den Kapellenraum leer zu sehen: nur mit dem frisch geschälten Stamm, der in der Dämmerung regelrecht leuchtete mit einer unglaublichen Präsenz und Strahlkraft. Das Schlagwort "Weniger ist mehr" traf hier nicht tief genug, das Wenige war alles!Wenn Wolfgang Folmer diesen Stamm bearbeitet, wird er sich am Ende daran messen müssen, was war.Darum geht es hier: die Energie dieses gestürzten Kolosses aufzunehmen, sie weiterzutragen und umzuwandeln in etwas Neues. Das geschieht in den folgenden 2 Wochen.Und heute? Was wird Ihnen heute geboten? Sie sollen auf ihre Weise einen Nullpunkt erleben. Wir bieten Ihnen das Unerwartete, das Ungewohnte.Wir wissen selbst nicht, was auf uns zukommt. Wir vertrauen einem Künstler.Und wir nehmen eine Herausforderung an.Das Ungewohnte ist: Sie erwarten eine Vernissage und finden keine Bildwerke. Der Künstler früher hatte sein fertiges Bild mit einem Schlussfirnis, einem vernis moux überzogen, dann wurde das Ateliergeheimnis der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir haben hier nichts Fertiges, hier wird erst angefangen. In unserer Einladung steht nicht Vernissage, sondern ausdrücklich: Eröffnung! Eröffnet wird ein Kunstprojekt.Wir haben es "ars solvendi" genannt. Das darf ich erläutern.Die Hospizgruppe Weil der Stadt feiert heuer ihr 10-jähriges Bestehen. Die Leiterinnen Frau Dietz und jetzt Frau Bartl kamen auf das Kunstforum zu mit der Frage, ob Kunst etwas zu sagen habe - zum Thema Tod, terben...Das ist eine Herausforderung! - was geht einem Künstler oder Kunsthistorikeralles durch den Kopf bei diesem Thema?Alle Anfänge von Architektur - und man spricht von Architektur als der Mutter aller Künste - sind im Totenkult zu finden.Christos M. Joachimides schreibt im Katalog zur Ausstellung "Afrika" (Berlin, 1998): "Die Kunst ... hat über ihre gesamte Geschichte hinweg 2 zentrale Themen, Tod und Fruchtbarkeit". Er bezieht sich auf Afrika und einen Zeitraum von 5000 Jahren, aber seine Aussage kann mit Abstrichen auf die gesamte Kunstgeschichte angewendet werden.In der römischen Antike sollten Mumienporträts aus Wachs, erstaunlich realistisch, den Toten helfen, im Jenseits ihre Gestalt wiederzufinden. Das Mittelalter und seine Maler sahen den Tod als Erlösung vom irdischen Leben und als Wegbereiter zu ewiger Glückseligkeit. Und sogar die so sehr dem Irdischen zugewandte Malerei des Barock vergaß nicht die Endlichkeit des süßen Lebens und schmuggelte selbst ins saftigste Stillleben immer eine kleine symbolische Anspielung wie die gerade verlöschende Kerze, ein umgefallenes Weinglas - alles im Sinne eines "memento mori", denke an den Tod!"Memento mori", das war dann auch - drastisch und daher unangemessen - zunächst der Arbeitstitel der vom Kunstforum ins Auge gefassten Themenausstellung. Künstler sollten angeschrieben werden, die ihre Aussagen zum Thema umsetzen würden. Unsere letzte Themenausstellung "Masken" hätte man komplett übernehmen können, dazu die durchgestrichenen Köpfe von Arnulf Rainer, eine schwarze Tafel von Felix Schlenker, ausgedrückte Tuben-Gestalten von Jürgen Brodwolf ... in diesem Zusammenhang eher peinlich. Die angefragten Künstler hielten sich Gott sei Dank bedeckt, bis auf den einen, und der hatte ein Gesamtkonzept. Dieses ungewöhnliche Konzept und die ungewöhnliche Person, die dahinter steht,gewann unser Vertrauen. Vor einem Jahr habe ich Wolfgang Folmer kennen gelernt. Eher zufällig kam ich von einem benachbarten Atelier eines anderen Künstlers auch in seine Räume. Er war dabei, seine Bilder per Computer zu archivieren: große Pastellzeichnungen. - Ich war sehr irritiert und versuchte sie mir einzuordnen: in der Farbe poppig-frech bis sublimverhalten, von der Machart her ein Mix von Andy Duck bis Donald Warhol ( ... Katalogisierungssucht) mit Visionen zwischen Marc Ernst und Max Chagall - eine sehr eigene Mischung! Das Eigenartigste aber war die Fülle, die unbeschreibliche Vielzahl der Arbeiten, wo einzelne Bilder sich mir übereinander schoben und zu einem Ganzen wurden.Ein ähnlicher Eindruck von Fülle bei meiner 2. Begegnung mit Wolfgang Folmer: beim Kunstverein Schwäbisch-Hall, diesmal an einem heißen Sommertag. Die Vernissage der Doppelausstellung mit Rolf Nikel beschränkte sich auf je 4 Bilder in der Eingangshalle, während der 4 Wochen "Ausstellung" aber füllte sich daneben und darüber der riesige Fachwerkbau über alle Stockwerke bis unter das Dach mit Kohlezeichnungen, die vor Ort angefertigt wurden. Imponierend wieder die Folge: Bild zu Bild sich weiterentwickelnd. Erstaunlich auch das Bemühen von Wolfgang, seine angelernte Kunstfertigkeit bewusst abzustreifen mittels z.T. drolliger Versuche: mit der ungeschickteren linken Hand zeichnen oder den Entstehungsprozess nicht direkt auf dem Papier, sondern via Kamera auf dem Monitor verfolgen, manchmal sogar blind zeichnen. Kunstfertigkeit, einmal Gelerntes, Gefundenes soll nicht neue Impulse in starre Formen drängen dürfen.Diese distanzierte Haltung zu starren Ergebnissen zeichnet schon seine frühen Arbeiten aus ...(Früh muss man dabei relativ sehen: Wolfgang Folmer kam erst über Umwege zur Kunst. In seiner Vita auf der Einladungskarte übergeht er seinen ersten Beruf als Wagenmeister, den er nach langer Ausbildung nur kurze Zeit ausübte. Er gab eine Beamtenlaufbahn bei der Bundesbahn auf, mit 25 Jahren begann er seine künstlerische Ausbildung, war schließlich Meisterschüler von Rudolf Schoofs an der Kunstakademie in Stuttgart.) In seinem Werkbüchlein "Grafische Entwicklungsarbeit" von 1994 zeigt er Zeichnungen, die spielerisch offen angelegt sind: ein fester Wissensschatz der Kulturgeschichte wird bruchstückhaft dargestellt, kombiniert oder konterkariert mit Hightech-Versatzstücken. Im Vorwort zu diesem Werkbuch ergründet Franz-Josef van der Grinten die Beweggründe zur Arbeitsweise Folmers: " ...aus dem Wissen, dass in der Dynamik des Seins nichts wirklich statischen Bestand haben kann, dass aber nichts, was war, wirklich aufhören kann zu sein, vertieft sich Wolfgang Folmer in die Erscheinungen der Welt ...".... Wissen, ... dass nichts ... Bestand haben ... nichts ... aufhören kann.Da sind wir wieder bei der Herausforderung am Anfang, beim Thema Leben und Tod. Wenn ich weiß, dass Energie nicht verloren gehen kann, fällt es mir leicht, loszulassen, im richtigen Augenblick. ARS SOLVENDI - die Kunst des Loslassens - besteht in dem Gespür und dem Mut, wenn genügend Kraft aufgebaut oder verbraucht ist, für einen neuen Schritt bereit zu sein.Ich bewundere den Schritt von Wolfgang, den alten Beruf aufgegeben zu haben und einer Berufung nachgegangen zu sein. Es ist beruhigend, zu erfahren, dass der Tod ein Tor für das nächste große Abenteuer sein kann. Und ich bin neugierig, wie sich dieser Ort verwandeln wird. Vom bearbeiteten Stamm will Wolfgang Folmer Holzdrucke machen, die aber nicht zur Vervielfältigung gedacht sind, sondern als Unikate. Wolfgang Folmer wird nach jedem Druck den Stamm wieder glätten, sich vom Erarbeiteten lösen, neu beginnen. Das Alte wird im Neuen nachschwingen, das Neue wird die Energie des Alten auf seine Weise weitertragen.Wolfgang wünsche ich gute Arbeit in konzentrierter Atmosphäre. Den Besuchern danke ich für ihre Aufmerksamkeit und ihr Vertrauen in diese Arbeit.
Wie Papier zu Holz wird - oder: Warum Pinocchio eine Marionette bleiben darf
Bleistift- und Buntstiftzeichnunge
Katalogtext von Dorothee Götte-Heiss
Es beginnt wie fast immer mit Besessenheit, mit der im Kopf laut hämmernden Idee, sich selbst ein Gegenüber zu schaffen. In Ton geknetet, in Verse gepackt, aus Steinblöcken gehauen, hastig aufs Papier gebannt: die Kreatur ist fleischgewordene Idee, mal flüchtig und verwerflich, mal vital und selbstbestimmend. Die Kreatur namens Pinocchio, das gewünschte und selbstgeschnitzte Kind aus Holz, gerät, naiven ungetrübten Sinnes und fern vom Schöpfervater, in eine gefährliche Welt voller Schlitzohren und Verlockungen. Unbegreiflich bleiben seinem Holzkopf die Regeln und Gesetze. Er muss sich - glücklicherweise von guten Mächten wunderbar begleitet - durch einen abenteuerlichen Dschungel von Anfechtungen und Bewährungsproben schlagen, um am Ende - wie jeder echte Held - als Lohn für wahre moralische Läuterung das kostbarste Geschenk zu erhalten: die Verwandlung in einen Menschen aus Fleisch und Blut.Wolfgang Folmer alias Meister Gepetto lässt die Puppen tanzen, fängt sie mit dem Stift fast mit einer einzigen sicheren Umrisslinie auf Papier ein, dreht alle beweglichen Glieder, füllt sie mit einer hölzernen Bleistiftmaserung, stellt sie in einer bizarr unzusammenhängenden Welt der Dinge auf den Kopf, verwandelt die Holzfigur in einen leibhaftigen Menschen - und wieder zurück.Die dem Betrachter aus Kinderbuchtagen vertraute und daher nicht ganz zufällig fokussierte Marionette führt allerdings zwischen den spukhaften rumpflosen Torsi, den auf Umrisslinien reduzierten Aktskizzen, den unmaßstäblich und bedrohlich vergrößerten Haustieren kein formales oder inhaltliches Heldenleben.Beinahe zwanghaft vertreiben Bleistift (und gegebenenfalls Buntstift bzw. Ölkreide) jeglichen szenischen Plauderton aus den Einzelblättern, indem Figuren sich rein zufällig in formsinnigen Linien überschneiden oder tangieren, nicht aber sich in Wirklichkeit berühren oder miteinander kommunizieren.Auf dem linken Bild der gegenüberliegenden Seite beispielsweise werden zwei eigenständige, in anderen Blättern variierte Figuren- bzw. Gegenstandsarrangements wie Transparentpapiere übereinander geschoben und so zwei zeichnerische, nicht narrative (!) Handlungsebenen miteinander fusioniert: Auf dem klar zentralperspektivisch konstruierten, farbig schachbrettartig gekachelten Raum wirken die papierweißen, nicht spezifizierbaren "Untiere" und Architekturbruchstücke wie aufgeklebt. Auf dieses Bild wird eine transparente Folie aufgelegt und dabei die darauf gezeichneten Figuren durch die erste Zeichenebene per Zufallsprinzip mit Farbe gefüllt. Auf den Kopf gestellt und schon dadurch jeglichem bildlichem Erzählzusammenhang entzogen, erscheinen Zeichnungen von Jungen und marionettenhaften Puppen, die hier (mutwillig) als Einzelstadien aus der Metamorphose Pinocchios gelesen werden: Pinocchio als ausdruckslose Holzpuppe in reduzierter Profilzeichnung, ein blickloser Junge aus "Fleisch und Blut" mit hängenden Schultern und ebenfalls im Profil, eine mit Pinocchioattributen gekennzeichnete hölzerne Gliederpuppe, den Mund geöffnet, schreiend (?), wie im freien Fall die Arme geöffnet, die mehrgliedrigen Beine und Füße schräg nach oben zeigend, ohne Stand - wobei natürlich genau genommen jeglicher Handlungs- oder Bewegungsimpuls zwangsläufig vom Schauenden wild hinzuphantasiert wird. Ist der ebenfalls offensichtlich aus Fleisch und Blut bestehende Junge mit Zipfelmütze eine Illustration des verwandelten Pinocchios? Berechtigte Zweifel scheinen erwünscht zu sein, denn kaum hat der Vollständigkeitsmechanismus des menschlichen Verstandes einen Zusammenhang erpuzzelt, da bringt eine bewusst naiv gezeichnete weibliche Zwergenfigur mit überproportional großem Kopf und taillelos quadratischem Rumpf, offensichtlich einer völlig anderen Stilkategorie angehörend, Unruhe ins vermeintliche Ensemble.Der Baumstamm, dieser ungewöhnliche Druckstock, in den ähnliche Zeichnungen eingeritzt, geschnitten werden, um dann im letzten Schaffensstadium als Druck wieder auf Papier abgebildet zu werden, ist in den Zeichnungen stets mitgedacht, wobei diese nichts an künstlerischer Eigenständigkeit einbüßen. Im Gegenteil: Das beständige Thematisieren und Spielen mit den Materialien des künstlerischen Prozesses eröffnet schier unendliche Welten der zeichnerischen Virtuosität, in denen entstofflichte oder mit artfremder Materie gefüllte Dinge, Figuren und Lebewesen für den Betrachter zu ständig wechselnden, teils befremdlichen, teils witzigen Vexierbildern werden.Figürliche Darstellung wie Akte, Tiere, Puppen oder disproportionierte Phantasiegestalten zeichnet Folmer mit wenigen Linien, ohne illusionistische Schraffur (keine Plastizität, Haarschopflinien ohne Andeutung der haarigen Substanz, Augen ohne Zeichnung der Iris und/oder Pupille usw.), enthebt sie so ihrer eigentlichen Materie und verleiht ihnen teilweise ein neues hölzernes Innenleben, indem die Bleistift- und Buntstiftzeichnungen Holzmaserung, gegebenfalls zusätzlich durch monochrome Farbe unterstützt, als alleinige Binnenzeichnung fungiert. Daneben findensich aber auch viele "materialgerechte" Holzobjekte wie Stühle, Hocker, Kommoden oder Bäume - letzterer allerdings durchweg blattlos, comichaft oder als Klötzchentanne aus dem Holzbaukasten. Ihre beständige beruhigende Gegenwart schafft eine vordergründige Plausibilität für das wahnwitzige Verwandlungsspiel, das Folmer mit den Elementen treibt: Wolkenstücke, geflügelte Wesen, Attribute des Elements Luft, schematische Wellenmäander und Ozeandampfer aus der Welt des Wassers und spitzige, grob "geschnitzte" Wiesenstücke und gezackte Schlangen, auf das Element Erde verweisend. Leicht ist man versucht, sich über allen artistischen Bleistiftspuk hinwegzusetzen, sich nur mit dem bildungsbürgerlich einleuchtenden Etikett des Surrealismus zu bewaffnen und dabei das Wesentliche zu übersehen: dass das Primat des Holzes die Regeln diktiert und den zaubernden Zeichenstift in die Schranken weist.Der auf dem Einzelblatt vermeintlich ungefiltert sprudelnde zeichnerische Bewusstseinsstrom erweist sich in der Zusammenschau mit Zeichnungen ähnlichen Figuren- und Formenvokabulars und erst recht verglichen mit den "Erzählfriesen" der Baumstämme als hart erarbeitete und sorgfältig konstruierte Traumwelt voller formaler Ironie und teils abgründiger, teils paradoxer Mehrdeutigkeit. Selbst die Schatten führen hier ein Eigenleben, überschneiden bzw. durchdringen sich und wachsen so zu undefinierbaren zweidimensionalen Gebilden zusammen - eine Art "Rorschachakrobatik", die zum Weiterphantasieren nötigt.Der Gleichwertung der Dimensionen entspricht die Gleichzeitigkeit, zuweilen auch Widersprüchlichkeit verschiedener Perspektiven in ein und demselben Bildzusammenhang: Auf einem aufsichtig dargestellten blauen Tisch, der in dem gekachelten Raum mit der rosafarbenen Holzwand offensichtlich keinen realen Stand findet, kopulieren fröhlich zwei streng ins Profil gedrehte, rote, holzgemaserte Hunde, während mit wenigen Strichen angedeutete fleischfarbene Frauenakte ebenfalls ohne Bodenhaftung fast tänzerisch sich in unterschiedliche Richtungen drehen, ohne in Blick- oder sonstigen Interaktionszusammenhang zu treten. Geerdet hingegen und auf dem Schachbrettboden unter dem Tisch zwanglos verteilt sind nostalgische Spielzeugfetische wie Kreisel, Flugzeug, Würfel, Becken schlagender, mechanischer Affe und Bauklötzchen. Diesem auf vielen Zeichnungen immer wieder neu variierten und arrangierten Arsenal perspektivisch zugeordnet erscheint ein ebenfalls mehrfach zitierter unterleibsloser Männertorso im Profil, der wie das Hundepaar und ein vergrößerter Spielzeugtannenbaum auf einem rosa Stuhl durch eine farbig unterlegte Holzmaserung ausgefüllt ist.Dinge und Figuren, oft mit der Ästhetik der Kinderbuchillustration kokettierend oder mit kunsthistorischen Versatzstücken wie Architekturstücken à la De Chirico oder Picassohafter Simplizität jonglierend, tauchen in immer wieder neuen Kontexten und Kombinationen in den Zeichnungen auf und führen so ein beinahe protagonistenhaftes Eigenleben. Der Betrachter wird zwar seinem natürlichen Zwang narrative Stränge daraus zu flechten bewusst überlassen, er gerät aber buchstäblich auf den Holzweg, wenn er versucht, eine Art erzählerische Kohärenz aufzudecken und damit dem Künstler womöglich auf die Schliche zu kommen. Würde auf den Zeichnungen wirklich im ureigensten Sinne erzählt, dann bliebe das Figurenzitat ohne künstlerische Sublimation und wollte damit nichts anderes sein als das Original: pure, wenn auch gut gezeichnete, Illustration.Pinocchio wird auch als Fleischgewordener seine spitze, lange Nase nicht los. Seine moralische Läuterung wird uns erlassen und das Fatum, in der Welt der Menschen nur als Mensch Existenz berechtigt zu sein wird ebenso ad absurdum geführt wie die Herkunft der geflügelten, entmenschlichten oder erigierten Wesen verdächtig, ungeklärt und spannend bleibt.
Texte
Wirklichkeitsunruhe Textbeitrag von Gunnar Schmidt, „lichterloh“, 2022 Galerie Palais Walderdorff Das Sein in lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten stabilisiert die Gewissheit, am Morgen in derselben Seinssphäre zu erwachen, die man am Abend beim Schlafenlegen verlässt. Die Erwartung des Erwartbaren ist ein Zustand erfahrungslosen Glücks. Bricht etwas ein – Exotik, Unzugänglichkeit, Phantasieschaum, Leidenschaft –, droht Ambivalenz, denn nichts garantiert, dass aus der Begegnung mit der Unruhe etwas erwächst, das als gelungene Erfahrung verarbeitet werden kann, um ins Register der Beseelung oder des Wissens aufgenommen zu werden. Ein Ding, ein Ort, eine Stimmung, eine Atmosphäre verweigern sich der Einordnung in das Lebensweltgefüge, lassen Gedanken und Empfindungen schwanken. Abwehr oder Verlegenheit oder Ratlosigkeit bedrängen dämonisch die Gelassenheit im Gewohnten. 1988 findet Wolfgang Folmer in einer stillgelegte Industriehalle ein abjektales Objekt, einen beschädigten, funktionslos gewordenen Stuhl. Folmer nimmt die Bruchstücke, fügt sie zu ungewohnten Kombinationen, hartes Licht schlägt darauf und zeichnet dramatische Schattenwürfe in den sandigen Boden. Der Stuhl ist ein Stuhl – ist ein Stuhl? Oder nichts als Material, Holz, Hyle, Anlass für das skulpturale Gestalten? Wie in luftleerer, menschenenteigneter Umwelt gefangen, erheben die Fotografie und die künstlerische Geste das Bruchstück zum Symbol ultimativer Verlassenheit. Die Bildwerdung potenziert die Sache zur Metapher. Ich erkenne ein erlegtes Tier ohne Kopf, ein Skelett ohne Fleisch, sehe ein Sinnbild der Niederschlagung. Angesichts der Zerbrechlichkeit und Vergeblichkeit kann den Betrachter Scham befallen: »Die Sonne strahlte auf die ekle Fäulnis nieder, / Die ihre Glut zu kochen schien, / Als gäbe hundertfach sie der Natur das wieder, / Dem einst sie eine Form verliehn.« So wie Baudelaire dem Kadaver eine poetische Sprache verleiht und implizit eine Poetik des Unheilen (oder Unheils?) entwirft, so vermag das unbedeutende, hässliche Sujet des Abfalls Grausamkeit darzustellen. Grausamkeit ist die Ohnmacht, sich nicht anrühren zu lassen. Der Künstler lebt und arbeitet an der Kippstelle, wo die Lebenswelt befremdlich wird, wo die Kunst sie befremdet, wo es Erfüllungsverweigerung gibt. Der Stuhl, wie überhaupt Möbel beschäftigen Folmer in der Folgezeit, jene para-lebendigen Wesen, mit denen wir umgehen, kommunizieren, die sich an uns binden, von denen wir uns nur schwer zu trennen vermögen – Objekte des Liebens. In der Serie »Stuhl« (1989) erkenne ich den Wiedergänger aus der Industriebrache in der Version ungebrauchter Neuheit wieder. Im Atelier des Künstlers wird er zum Spielzeug, mit dem die Melancholie der trostlosen Verlorenheit in scheinbaren Leichtsinn, in Humor verwandelt wird. Sigmund Freud zufolge ist der Humor ein Beharren des Ich, »die Traumen der Außenwelt« nicht nahekommen zu lassen. Wenn Folmer drei Paare abgetragener Schuhe, die kunstvoll ineinandergesteckt sind, als ein raupenartiges Lebewesen über den Stuhl kriechen lässt oder Möhren als spitze Abwehrwaffen appliziert, dann ist trotz aller Stilisierung das Moment der Feindseligkeit angezeigt. Die surrealen Applikationen stehen antithetisch zum Starrsinn der Möbelarchitektur. Materialauswahl und Inszenierung verkörpern eine Dialektik: Sie erweitern einerseits die traditionelle Vorstellung von Skulptur, bestätigen andererseits die Gattungsprinzipien von Dynamik, Eleganz, Formgewinnung und Raumbestimmung. Die chronofotografische Darstellung dementiert allerdings das skulpturale Paradigma der Festigkeit; die Vergänglichkeit und Formungewissheit sind auch in der humorvollen Kombinatorik gegenwärtig. Das Widerspiel von ordnungssinniger Verfasstheit und kombinatorischer Frechheit inkorporiert mimetisch den Aspekt der Bedrohlichkeit. Scheint der Stuhl auch stoisch alles über sich ergehen zu lassen, das Unheimliche lauert in der Kontingenz möglicher Ausbrüche aus der Konstanz. Ist es der Künstler, der in seiner ihm historisch zugeschriebenen Rolle des Ungehorsamen das Wahrscheinliche mit Unwahrscheinlichem verfremdet, oder ist er das Medium der Dinge, die zuweilen mit dem Menschen in Zwietracht geraten? Mit dem Gespür für die Doppelsinnigkeit der Dinge, die uns wärmen, ausdehnen, entlasten, tragen und gleichzeitig zu Fremdlingen werden können, die bedrängen, enteignen, Luft nehmen, weil sie übervoll von Sinn sind, tauchte Folmer 1990 in eine Lebenswelt ein, um dort in den Dingen Spuren oder Geister zu suchen. Zunächst ganz auf das Schauen bedacht, entdeckte er im Leben den Vorschein – oder ist es der Nachschein? – des Todes. Die Wohnung Frau Ottos ist wie eine chiffrierte Landschaft, in der nicht erzählte Geschichten und Geschichte verdichtet sind. Die übervolle Idyllenwelt aus Nippes, Puppen und Stofftieren korrespondiert mit der Möbelbehandlung des Künstlers, denn auch Frau Otto belegt Sessel, Sofa, Stühle und formt auf diese Weise surrealistische Arrangements: Übersinn-Möbel. Zu Abstellplätzen für Lebensersatzdinge umgedeutet, entsteht ein Atmosphärenrefugium. Der höhlenartigen Stoffwelt haftet Ungeheuerlichkeit an. Einerseits Ausdruck der Eigenweltgestaltung muss man andererseits im Selbsteinschluss die Gespensterbannung der Kriegszeit vermuten. Wo ehemals Trümmer herrschten, dort kompensieren Kuscheltier und florale Polstergarnitur den verletzten Traum vom weichen Leben. Die Künstlichkeit ist überwältigend und muss das moderne ästhetische Empfinden zutiefst berühren. Vermittelt durch das fotografische Abbild entsteht weniger ein Lebensraum als eine Szenografie, in der die Bewohnerin lediglich eine marginale Rolle spielt. Das Dingliche regiert alles, betört den Sehsinn. Als Bildbetrachter fühlt man sich fixiert von den vielen Knopfaugen, die wie im Verfolgungswahn Gegenwart in Permanenz bedeuten. Ydessa Hendeles, Künstlerin und Kuratorin, hat in ihrem Ausstellungsprojekt »Partners« (2003) 3000 von ihr zusammengefundene Vintage-Fotografien präsentiert, auf denen Teddybären in allen möglichen Lebenslagen erscheinen. Die Wucht der Bildfülle und des vervielfältigten Motivs verwandelte das Niedliche in ein Deckbild des Horrors; folgerichtig bezeichnete Hendeles ihr Projekt als »post-Holocaust document«. Frau Otto konfrontiert den Besucher ihrer Ausstellung auf ähnliche Weise – und Wolfgang Folmer muss von dem affektiven Nachleben der Dinge zutiefst beeindruckt gewesen sein, denn in der Folge entsteht eine Fotoreihe, die den Tod thematisiert. Beginnend im Stil des Dokumentarismus gruppiert er Bilder einer Sterbenden mit Bildern von vergehenden Dingen – halb tote Pflanzen, vergessene, abgenutzte und verstaubte Gebrauchsgegenstände. Folmer verändert dann jedoch sein Vorgehen und nimmt in der Dunkelkammer erste fototechnische Eingriffe am Material vor. Mit Hilfe von Mehrfach- und Negativbelichtungen entstehen transparente Gespenster und Unwirklichkeitsmilieus. Teils als fantastische Störungen des Realismusdispositivs, die an die Geisterfotografie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnern, teils als bildeinnehmende Gesamtverfremdung gelingen Formgestaltungen zwischen Collage und malerischem Eigensinn. Die Fotografie, die so unbarmherzig der Referenz auf die Wirklichkeit bedarf, wird durch die Werkzeuge der Lichtzeichnung und der chemischen Behandlung im Entwicklungsbad zu einem Medium der Sublimierung. Die Realitätsaspekte scheinen nur noch hinter der Bildoberfläche zu liegen; das Bild selbst wird zum Geist – des Künstlers. Wo Auge war, wird Hand. Man kann Folmer glauben, wenn er schreibt: »Ich versuchte, durch das künstlerische Handeln diesen scheinbar geordneten, heilen Welten, hinter denen sich in Wahrheit tiefe seelische Abgründe verbargen, das Bedrohliche zu nehmen.« Da die Wahrhaftigkeit des Realen schwer zu ertragen ist, tritt die Gegenwelt der Kunst auf den Plan, in der das Bedrohliche aufgehoben wird – wo es bewahrt und doch zu etwas anderem umgedeutet wird. Das neue Terrain expressiver Auslegung erzeugt unweigerlich auch sinnhafte Mehrleistungen. Die zunehmend von Kühnheit getragenen Übermalgesten erscheinen wie Befreiungszeichen vom Indexwert der Vorlagen; gleichzeitig wahren sie das Gewaltförmige des Ausstreichens. Der Doppelwert aus ludischer Weltabkehr und kraftvoller Realitätsbewältigung löst sich nicht auf. Man sehe sich die Gruppe der fotografierten Kleinstskulpturen (1994) an, in denen Spielzeugfigürchen, Tortendekoration und Schneekugeln zu barockartigen Stillleben zusammengefunden haben. Die Feier des Kriegshandwerks in Gestalt kunststofflichen Zuckergusses ist ein bitterer Kommentar, ein ästhetisches Oxymoron, mit dem die unvorstellbare Ausdehnung der globalen Bellizismusmaschinerie nur noch mit dem Mittel der Miniatur zur Vorstellung gebracht werden kann. Claude Lévi-Strauss stellt die Vermutung an, dass die »meisten Kunstwerke verkleinerte Modelle sind«, woraus überhaupt erst Erkenntnis und Macht über die Gesamtheit gewonnen werden kann: »[I]n der Verkleinerung erscheint die Totalität des Objekts weniger furchterregend […] und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes. […] Anders ausgedrückt, die innere Kraft des verkleinerten Modells besteht darin, daß sie den Verzicht auf sinnliche Dimensionen durch den Gewinn intellektueller Dimension ausgleicht.« Ist dieser anthropologischen Aussage einerseits zuzustimmen, so ist ihr andererseits auch zu widersprechen. Die Verniedlichung, mag sie auch für den Moment genießbar sein, kann gerade deshalb erschrecken, weil wir gewahr werden, was nicht zu verstehen ist. Die Verkleinerung zeigt, was die technodestruktive Erhabenheit zu bewerkstelligen vermag: das Verkommen des Lebendigen zum bloßen Ornament. Das fotografische Werk Folmers ist eine Mediengeschichte en miniature. Der Künstler wiederholt mit seinen Themen im Zeitraffertempo die Entwicklung des Mediums von der Registraturtechnik zur Kunst, von der Schwarz-Weiß- zur Farbästhetik, vom Analogen zum Digitalen, von der Dunkelkammer zum Computer. Lässt man die Bilder vorbeiziehen, entsteht der Eindruck, dass mit der Modernisierung auch ein Optimismusgewinn zu verzeichnen ist. Nicht das Enge, Intime, Kleine bestimmen den Bildraum; in der Landschaftsfotografie drängen das Helle, Offene und das Aufstrebende zu ihrem Recht. Gewiss, die Idylle wird nicht gesucht, doch scheint ein kunsttätiges Verlangen auf, sich von den trüben thanatopischen, heimsuchenden Motiven erholen zu wollen. Die Bilder bezeugen eine Hinwendung zum strengen formalen Blick, wobei Folmer die Befremdungsästhetik und die Tendenz zur Doppelbödigkeit beibehält. Der Serientitel »Spiegelungen« deutet dies an, sind Spiegel doch sonderbare Medien, in der die Welt im wahrsten Sinne verkehrt erscheint. Folmers Landschaftsszenerien, reflektiert von Gewässeroberflächen, versetzen den Betrachter in die Rolle des befreiten Höhlenhäftling in Platons »Höhlengleichnis«, der seine Wirklichkeitserfahrung im Draußen durch das Erschauen der Spiegelbilder auf dem Wasser einleitet. Wenn der Künstler eine von Unschärfen, Verwellungen und Verschmutzungen durchwirkte Wirklichkeit vor Augen bringt, dann sind die Störungen nicht erkenntniskritisch gemeint, sie stellen ästhetische Belebungen der Reinheit des Realen dar. Was ehedem durch Doppelbelichtung in der Entwicklerkammer bewerkstelligt wurde, übernimmt nun der natürliche Spiegel. Aus Welt wird Kunstwelt; was auf dem Kopf stand, wird wieder auf die Füße gestellt und ist nicht mehr dasselbe. Alles ist wahr und falsch zugleich. Die Fotografie, so hieß es einst, ist der Stift der Natur. Nein, sie ist eine Betrügerin, Verfälscherin in der Hand des Malers, der von einer anderen Wahrheit Kunde geben will. Dieses Miteinander von Zerrbild und Sinnbild wird deutlich an den Wiederspiegelungen der Glasoberfläche eines Parkhauses. Geradezu wirklichkeitsfremd wirken die ineinander geschobenen Ober- und Unterwelten, der Kontrast aus innen und außen, Natur und Beton, Dichte und Ordnung, Reich der Schatten und der Lichtflutung. Die Verklebung zweier Realitätsaspekte erzeugt ein schwer beschreibbares Gefühl der Uneinigkeit im Vereinten. Entgegen dem ersten Eindruck meldet sich die Unstimmigkeit, die Störung, der Schnitt, die eklatante Verkünstlichung, mithin eine unheimliche Energie. Mögen die weichen Wasserreflexionen von dem etwas verrückten, verschrobenen Sein hinter dem Wonderland-Spiegel Auskunft geben, so zeigen die harten Glasbilder die harsche Seite der Moderne. In diesen wie in vielen folgenden Fotografien dominieren zwei wiederkehrende Bildformative, Folmer’sche Signaturen, die Träger subtilen Ent-Setzens sind. Zum einen ist Folmer bemüht, seine Szenerien menschenleer zu belassen. Treten Menschen auf, so erscheinen sie als Doppelgänger Frau Ottos, als Randgestalten. Menschenleere ist das ultimative Mittel zur Erzeugung von Unwirtlichkeit und Unwirklichkeit. Zum anderen ist auffällig, dass Folmer seine Fotografien visuell zerschneidet. Meist sind es waagrechte Linien, vergegenständlicht in Mauern, Horizontlinien, Dächern, Absperrungen und Zäunen, die sich durch das Bild ziehen und es zweiteilen. Daneben bestehen vertikale Schnitte in Gestalt von Pfeiler und Mast, Baum und Skulptur, Architektur und aufsteigendem Industriedampf. Die Logik der Bildteilung in oben und unten, links und rechts mutet wie eine Maßnahme an, die Wirklichkeitsabbilder zu Symbolen der Uneinheitlichkeit umzuwerten. Beides, die Menschenleere und die Zerschneidung sind Eingriffe, um den Lebenswelteindruck, in dem die Unauffälligkeit Oberhand hat , zu schwächen. Der formalistische Blick erzeugt Distanz und einhergehend die Chance auf Bedenklichkeit. Die Oberfläche des Gewöhnlichen ist das Sujet – normalerweise nicht der Rede wert, nicht Wert, betrachtet zu werden. Im Folmer’schen Bildzugriff kommt hingegen eine stumme Seltsamkeit zum Zuge: Der abrückende fotografische Blick sowie die Zumutung der Erstarrung zeugen von einer Seelenlage der Nicht-Verlässlichkeit von Wirklichkeit. Bilder vermitteln den Eindruck von Raumfahrten, die von der Frage begleitet werden, was in und hinter dem Gesehenen wirklich zu finden ist. Unter der Hand des Fotografen wird das, was ist, obskur, unromantisch, zweifelhaft – und unter Umständen sogar der Möglichkeit der Negation übergeben. Der Formalismus wirkt erkaltend, die Darstellung von Lebenswürdigkeit ist nicht das Ziel dieser Aufnahmen. In den Landschaftsbildern haust ebenfalls das Geisterhafte, das immer dort zu spuken beginnt, wo Menschen aufgehört haben zu existieren. Die Distanznahme als Flucht und Schaugewinnung wird in der jüngsten Fotoserie fortschreitend ausgedehnt und zu dem Punkt gebracht, wo ästhetische Weltbefremdung zu Bildern des Weltverschlusses führen. Da die Panoramen allesamt in der Nacht fotografiert wurden und die Bildnahme ausschließlich auf das künstliche Restlicht in der Umwelt angewiesen war, kam es teilweise zu stundenlangen Belichtungen. Die Tatsache der Zeiteinfrierung allein bewirkt, dass einige Motive wie beleuchtete Bühnen wirken. Was kein Betrachter sieht: Folmer setzt die Szenen aus mehreren Einzelaufnahmen zusammen, diese können aus bis 150 Bildern bestehen. Die arbeitsintensive Post-Produktion bewirkt einen weiteren Verkünstlichungsschub, einen Weltbildbau, der die Wahrnehmung überschreitet: Die meterlangen Ausdrucke laden zu zwei gegenläufigen Rezeptionen ein. Der Betrachter geht auf Distanz, um das Ganze überblicken zu können, oder er tritt nah heran, denn erst der parzellierende Detailblick erkennt das Kleine und Unscheinbare, das im Gesamtbild verborgen ist. Mehr noch als in den Stadtbildern schwindet das Menschliche zur Punktgestalt; es dominiert das Glühen elektrischen Lichts und der Widerschein auf Bäumen, Dampf, Gebäuden. Auf diese Weise erlangen die Dinge eine hyperreale Präsenzförmigkeit bei gleichzeitiger filmischer Derealisierung. Folmer wird das, was das Panoramafoto zeigt, nie so gesehen haben. Es ist das technische Dispositiv, das die dichte Farbigkeit und Dingkünstlichkeit hervorbringt. 1936 betont der Bauhaus-Künstler László Moholy-Nagy die sublimierende Funktion der Fototechnik: »die fotografie schenkt uns ein gesteigertes bzw. ein mehr-sehen in der – (unseren augen gegebenen) – zeit, in dem – (unseren augen gegebenen) – raum.« Folmer folgt konsequent dem Paradigma des »neuen sehens«, wie es damals hieß. Mit den Panoramen realisiert er ein Seherlebnis ästhetischer Überwältigung. Gleichzeitig ist eine paradoxe Spannung zu bemerken. Panorama ist die Bezeichnung für Großbilder, im 19. Jahrhundert für monumentale Rundbilder mit zumeist Landschaftsmotiven. Dieser Tradition scheint Folmer zu folgen, doch weisen seine Nachtbilder eine für ihn eigentümliche Verschlossenheit, Dunkelheit und mysteriöse Schattenhaftigkeit aus. Panorama in der griechischen Wortsemantik bedeutet Alles-Sehen (griech. pan, ›all, gesamt, völlig‹, hórāma, ›das Sehen, Anblick, Geschautes, Erscheinung‹). Folmers Großfotografien verbergen mindestens so viel wie sie enthüllen. Dies kommt in den eindrücklichsten Motiven zum Ausdruck, den beiden Gefängnisbildern und der aus der Vogelperspektive aufgenommenen Produktionsanlage von Bosch, die der Künstler treffend als »Raumschiff« bezeichnet. Die Verwendung der Metapher weist den Weg zu dem, was diese Bilder auszeichnet: Die Motive haben ihren Wirklichkeitswert, sind aber wie die frühen Fotoarbeiten auch Allegorien, in diesem Fall Allegorien der Undurchdringlichkeit des Wirklichen. Das Panorama ist in der Signatur Folmers schlussendlich auch ein Nicht-sehen-Können, ein Nicht-erkennen-Können. Gerade die Bemühungen um das hochauflösende Bild, um die Vergrößerung und das stundenlange Lichteinfangen bringen etwas hervor, das einen hohen Fremdheits- und Unwirklichkeitscharakter aufweist. Es scheint, als schwebten die Leuchtkörper in der schwarzen Unendlichkeit des ewigen Raumes. Diese ästhetische Brillanz erzeugt Betroffenheit angesichts der Schweigsamkeit der Fotografien, die an Blaise Pascals berühmten Aphorismus aus den Pensées denken lassen: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« Was die Panoramen idealtypisch verkörpern, gilt vielleicht für das gesamte fotografische Werk: Es zeugt von einer Wirklichkeitsunruhe. Barytpapier, Kohlestaub, Rheingold und Nachtlicht Textbeitrag von Martin Schick, „Gegebenheiten“, 2023 Galerie der Stadt Backnang Ein Videofilm, schwarzweiß. Aufgenommen mit einer statischen Kamera, die von der Mitte des Raumes aus auf die leere schwarze Bühne eines typischen Gemeindesaalbaus gerichtet ist, der vielleicht in den Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wurde und wie es ihn wohl überall in der deutschen Provinz gibt. Vor der Bühne sitzen die Musiker eines Blasorchesters, links Blech-, rechts Holzbläser, in der Mitte das Schlagzeug. Davor steht der Dirigent, ein älterer Herr, mit dem Rücken zur Kamera, auf einem kleinen mobilen Podest. Kleider und Frisuren lassen auf einen Aufnahmezeitpunkt Ende der Achziger- oder Anfang der Neunzigerjahre schließen. Kein Publikum, eine Probe. Sie beginnen zu spielen, eine Art Marsch mit eindeutigem Rhythmus, der zu einem Umzug in der Faschingszeit passen könnte, wie er auch in Großrosseln jedes Jahr stattfindet und zu dem die Leute am Straßenrand dort „doll, doll!“ rufen. Aber irgendetwas stimmt nicht mit der Melodie in diesem Stück und auch die Harmonik entspricht nicht ganz der Hörgewohnheit. Dann kommt, im Zeitraffer, ein junger Mann mit hellem Sweatshirt nach vorne zum Dirigenten, bespricht sich mit ihm, der nächste Durchlauf folgt – und spätestens jetzt wird klar: Da stimmt wirklich etwas nicht, jetzt scheint die Melodie, ja der ganze Marsch auf Abwegen, bekommt Züge einer Parodie seiner selbst. Der Rhythmus ist zwar noch straff durchgehalten, aber alles andere scheint völlig verdreht. Als der letzte Ton verklungen ist, herrscht kurz Stille, dann eilt wieder der junge Mann – Wolfgang Folmer – nach vorne und ruft ihnen zu: Ja, das war doch schon mal gar nicht so schlecht! Den Ausdruck hat er gerade erst von den Schwaben gelernt, zu denen er zu diesem Zeitpunkt bereits übergesiedelt war. Er bedeutet auf Deutsch so viel wie: Das war absolut fantastisch, weiter so! Die konsternierten Musiker, offensichtlich selbst überrascht von dem, was sie da gerade gespielt und wohl zum ersten Mal gehört haben, brechen in ein erlösendes Lachen aus. Aber das war erst der Anfang. Nächster Durchlauf. Notenblätter werden getauscht, Anweisungen gegeben, der Marsch rutscht mit jedem Durchlauf zunehmend ins Absurde ab. Spielen sie, oder spielen gar nur Teile des Orchesters ihn rückwärts? Oder in der Umkehr oder Krebsumkehr, ohne Rücksicht auf die Harmonien? Wie hat der Mann die Noten manipuliert, hat er die Werte stellenweise verlängert und/oder zusätzliche Noten hineingeschrieben, hat er sie zerschnitten und neu zusammengefügt? Nach vielen Variationen hören wir am Ende ein Stück, das beinahe als „Neue Musik“ durchgehen könnte. Bis zum Schluss ein Marsch, ja, aber ein restlos demolierter. Etwas Neues ist entstanden aus den Bestandteilen des lustvoll zertrümmerten Alten, das auf seine Weise interessant und, wenngleich mit Merkmalen des Absurd-Komischen versehen, durchaus hörbar ist – mit neuen Ohren. Das Experiment ist Wolfgang Folmer, der im Musikverein seiner Heimatgemeinde Großrosseln selbst viele Jahre als Schlagzeuger aktiv war, gelungen. Für die Musiker wird es eine irritierende, ungewohnte, vielleicht auch inspirierende Erfahrung gewesen sein. Dass künstlerische Zerstörung enormes kreatives Potenzial freisetzen kann und immer auch der Beginn von etwas Neuem, Schöpferischem ist, diese Erkenntnis hat sich Wolfgang Folmer nicht nur mit diesem Video zu eigen gemacht. Eine seiner schwarz-rosa-rot-weißen Vektorgrafiken zeigt die Diesellok, an der der Spielzeugmotorradfahrer zerschellt und in zwei Teile zerspringt; die flächenhafte Spielzeug- und Schablonen-Ästhetik lässt das Ganze als harmloses Spiel mit Schnipseln erscheinen. Aber das Böse, Brutale der Erzählung ist schon in der Welt. Die oberflächliche Harmlosigkeit kommt innerhalb der formal sehr homogenen Serien von Wolfgang Folmer oft erst unterschwellig und dann von Bild zu Bild plötzlich ins Kippen. Die kindlich verniedlichte, stereotype Spielzeugwelt prallt nicht selten, auch in den Bleistiftzeichnungen, auf plötzliche Übergriffe oder Unfälle: Im Kitsch lauert die Gefahr. Etwas davon zieht sich durch sein ganzes Werk. Immer wieder Konventionelles, Schablonen, Kitsch, Kinderkram, aber auch Missratenes und unbeholfen Gestaltetes: Die Fokussierung und überdeutliche Zurschaustellung all dessen auf der einen Seite und schließlich der kreative Zerlegungsprozess andererseits erscheinen wie zwei Seiten einer Medaille in Folmers Arbeiten. Aus der Auseinandersetzung mit dem Trivialen zieht er eine seltsame Energie, die in eine Art künstlerische Überwindung mündet. Das fängt schon in den frühen Fotoserien in der alten Heimat an, die er bei Besuchen beispielsweise bei einer alten Dame in der Nachbarschaft gemacht hat – darunter Aufnahmen mit unerträglichen Anhäufungen von alten Möbeln, Kissen und Stofftieren, die sich zu einer ebenso faszinierenden wie bedrohlichen Kulisse auftürmen und gleichzeitig die authentischen Bühnenbilder einer Biografie zeigen. In Schwarzweiß auf mattem Barytpapier ist das alles gerade noch erträglich. Schwarzweiß ist abstrakter, ist wie Grafik. Und bei Wolfgang Folmer kommt alles von der Grafik; von ihr ausgehend hat er alles, was an bildnerisch-künstlerischen Techniken und Zwischentechniken zur Verfügung steht, erkundet, erweitert und immer wieder als Grafik formuliert. Es leuchtet einem auch sofort ein, dass einer wie Wolfgang Folmer von dort weg musste, um nicht schwermütig zu werden, weg vom gemütlichen, ausfransenden Rand der Welt an der lothringischen Grenze, weg von der romantisch-rauhen Schönheit des übersehenen westdeutschen Zonenrandgebiets, vom von Kohle, Ruß und Stahl und dem Klirren der Güterwagons geprägten, „gut katholischen“ Melancholialand zwischen Weidezaun und Schutthalde, um sich mit der Kunst andernorts neu zu erfinden – freilich nicht ohne noch einmal, und vielleicht ein zweites Mal, genau hinzuschauen. Die neue Heimat am Neckar bot ihm das geeignete Umfeld, um sich zu entwickeln, und die Nischen, die er brauchte, um nichts als zu arbeiten und alles andere dabei zu vergessen – oder zu verarbeiten. Jahrzehnte Jahre später ist sein Ludwigsburger Atelier mehr ein Lager als ein Arbeitsraum, genaugenommen mehrere Lagerräume. In ihnen lagern unzählige Grafiken auf Papier, auf Holzplatten, Pastelle, Gouachen, Druckgrafiken, Vektorgraphiken, Fotografien, und noch viel mehr Kohle- und Bleistiftzeichnungen. Lange Reihen formal ähnlicher Arbeiten, in denen er immer wieder neue künstlerische Ansätze mit einer grenzenlosen, fast besessenen Unermüdlichkeit ausgekostet hat. Gesehen hat die Welt davon längst nicht alles. Wohin er auch greift, um etwas zu zeigen, es tun sich unendliche Welten von immer wieder ganz unterschiedlichen Werkgruppen auf, die aber – zumindest in den grafischen Werkkomplexen – doch alle einiges gemeinsam haben: Die Linie als formbestimmende Dominante. Eine Neigung zur Reduktion. Die Lust am Experiment. Szenerien mit interagierenden Formen bzw. Subjekten. Vor allem aber setzt Wolfgang Folmer auf die hartnäckige Arbeit an der unbedingten Form, die er mit einer einzelnen Arbeit nie erreicht, durch die er aber mit jeder weiteren Arbeit die Aussage konsolidiert, die entstehende Welt ausbaut, variiert, verstetigt und zuspitzt. Es geht ihm immer um diesen Prozess, um das Machen, stets voll auf die künstlerische Arbeit konzentriert. Mag sein, dass dabei das öffentliche Zeigen ein wenig zu kurz gekommen ist. Dennoch gibt es auch im öffentlichen Raum einiges von ihm zu sehen: Etwa die 240 Meter lange, grau auf grau aufgemalte, abstrakte Grafik auf der abgeschrägten Kaimauer am Neckar, auf der Höhe des Kraftwerks Walheim, die man unverhofft beim Vorbeifahren auf der anderen Flussseite entdeckt – ein gewaltiges, ein unübersehbares, Zeichen in der Landschaft gewordenes Statement für seine grafische Kunstauffassung. Bis heute sind daneben immer wieder Videofilme entstanden. In den meisten dieser Videos sieht man den Künstler selbst körperlich agieren. Öfter als Schlagzeuger, der fast jeden noch so alltäglichen Gegenstand zur Rhythmusmaschine machen, zum Leben erwecken, zum Bestandteil seines Spiels, seiner Inszenierung machen kann. Dass in Vielem, was wir von Wolfgang Folmer sehen, eine feine, konstruktive Ironie steckt, wird gerade auch in den Filmen deutlich, sei es im Schlagzeugspiel mit Sofa als Instrument oder beim Spielen des auf dem Boden liegenden, zerlegten Schlagzeugs, eigentlich schon beim Musiktheater für drei Kuckucksuhren. Die genaue Beobachtung, das Hinschauen, die Wahrnehmung der Welt ist ein in Wolfgang Folmers gesamter Arbeit präsentes Anliegen. Auch von daher ist der Stellenwert der Fotografie innerhalb seines Werks ist zunehmend gewachsen. Die neueren digitalen Möglichkeiten der Kamera sind dabei ein willkommenes Hilfsmittel; damit kann man dann eben doch jemandem etwas zeigen: Hier, schau mal! Dieses Haus. Diese Industrieanlage. Dieser Park. Und noch deutlicher und immer größer: Die gebaute Welt, wie sie sich der Kamera darstellt, bei Nacht und mit künstlicher, staunenswert unwirklicher Beleuchtung. Dieser Schrebergarten. Dieses Unternehmen. Dieses Atomkraftwerk. Diese Justizvollzugsanstalt. Als meterlange Panoramafotografie, die aus vielen einzelnen Fotos zusammengesetzt ist, in enormer Detailtiefe. Das ist ein Realismus, der märchenhaft, künstlich und entrückt wirkt und gleichzeitig ebenso distanziert wie tiefenscharf unsere Zeit dokumentiert. Zuletzt führte Wolfgang Folmers Weg ihn in die Schweizer Berge, wo er im Rahmen eines Stipendiums in der Landschaft zeichnete, sein Zeichnen selbst mit der Kamera dokumentierte und kommentierte: Nichts als Scheitern sei es, was er da betreibe, sagt er in die Kamera, während er zeichnet. Die Produkte seines Scheiterns, die Zeichnungen, sehen dann alles andere als gescheitert aus. Aber, so muss man das wohl zu Ende denken, vielleicht gibt es die Zeichnung, die nicht scheitert, ja auch gar nicht, es sei denn als Vorstellung. Vielleicht ist alles Zeichnen immer ein Scheitern, ein erhellendes, lebendiges, rebellisches, anregendes, großartiges, auf noch viel mehr Lust machendes Scheitern. Dann wäre schlimmer als dieses Scheitern nur, es nicht darauf ankommen zu lassen und es aus Angst vor dem Scheitern erst gar nicht zu versuchen. Kunst muss immer ein Risiko eingehen. So gesehen mag man Wolfgang Folmers Kunst als Prozess eines grandiosen, erfindungsreichen, kämpferischen, sehenswerten, aus großer Fülle schöpfenden „Scheiterns“ im besten, im Folmer‘schen Sinne ansehen. Auch den Marsch, die Performance mit dem Musikverein Rheingold, die damals, Anfang der Neunzigerjahre, im Saalbau in Großrosseln gespielt wurde. Und man wird mit Wolfgang Folmer nach vorne stürmen und ihm zustimmend zurufen wollen: Das war doch schon mal gar nicht so schlecht! Aus dem Vollen geschöpft: Wolfgang Folmers Pastelle Textbeitrag von Petra Wilhelmy, "Wolfgang Folmer: an sich", 2023/24 Kunstmuseum Reutlingen In seinen Pastellen schafft Wolfgang Folmer das, was ihn auch sonst umtreibt: Er generiert Fülle. Ist erst einmal der Anfang gemacht, gibt es kein Halten mehr. In rascher Sequenz folgt Bild auf Bild, wobei bestimmte Motive oder Ideen Impulse geben für die anschließende Produktion. Manchmal sind es lediglich Farbabriebe des Vorgängers, die das leere Blatt „impfen“. Aus den eher zufälligen Markierungen erwachsen dann wieder neue Erfindungen. Folmer arbeitet exzessiv, um, wie er selbst sagt,1 seinen Verstand während des Tuns möglichst auszuschalten und ganz intuitiv, aus dem Gefühl heraus, das anschaulich wiederzugeben, was sich in ihm aus spontanen Ideen, Eindrücken und Erinnerungen zusammenbraut. Diese in allen Werkgruppen angewandte Vorgehensweise bezieht die Pastelle mit ein. Anders als die permanent zum Einsatz kommende Zeichnung beschränkt sich die Ausübung der Pastellmalerei bisher auf einen begrenzten Zeitraum: Zwischen 1998 und 2003 entstehen in vier Schüben eine große Zahl an Artefakten in dieser Technik. Wie der rauschhafte Arbeitsrhythmus entsprechen auch die Themen dem üblichen Kanon. Unorthodox, frei und kaum zu entschlüsseln finden Dinge zueinander, die nicht unbedingt zusammengehören. Die Mischung märchenhafter und unheilvoller Elemente, gespeist aus Wiederholungen, Abwandlungen, Echos und Überblendungen, bietet eine Quelle vieldeutiger und nicht wirklich greifbarer Aussagen. Was die Pastelle vom übrigen Schaffen inklusive anderer farbbasierter Gestaltungsmethoden unterscheidet, ist die malerische Handhabung des Materials. Während in den Aquarellen und Acrylmalereien die mit dem Pinsel aufgetragene Linie das Sagen hat und in den in Mischtechnik auf Transparentpapier ausgeführten Zeichnungen Farbe als unvermischtes, flächenfüllendes Medium auftritt, kombiniert Folmer in seinen Pastellen lineare Setzungen mit sich wandelnden, luftigen und partiell verschwommenen Farbarealen. Kohle oder Buntstift können die Kreide als weitere Komponenten komplementieren. Schwarz dient der Verdunkelung sowie Verunklärung und etabliert einen Gegenpol zu den koloristisch frischen und vitalen Passagen. Die Wahl der Farbwerte entspricht keineswegs der gängigen Vorstellung lichter Pastelltöne, wie wir sie z. B. mit den Tänzerinnen Degas‘ oder den Porträts Renoirs assoziieren. Ein sattes, flächiges Mittelbraun unterwandert die Leuchtkraft heller Färbungen, noch öfter verschattet Schwarz die Formen in verschiedensten Nuancen. So drängt sich eine abgründige, wenig vertrauensvolle Wirkung zwischen die Dinge, umhüllt Tiere, Fabelwesen, Pinocchio und sexuelle Fantasien. Die Bildwelt entzieht sich einem stringenten Zugriff. Anderen Werkkomplexen analog ermöglicht die serielle Kontiunität Wiedererkennungsmomente und Modifikationserlebnisse. Schneemann, Adventskranz oder Nudelholz verändern ihr Gesicht. Inhaltlich vom Gesamten abgegrenzte Einzelfälle gibt es keine. Die Darstellungen formieren sich als Konglomerat diverser Realitätsebenen, die sich kaum auseinanderdividieren lassen. Mysteriöse, bedrohliche Visionen und abstrakte Flächenmuster liefern Tannenbaum, Spielzeugfiguren, Fußball oder Revolver ein Pendant. Oft verzahnen sich realistische Motive mit linearen Schraffuren, markanten Andreaskreuzen oder Farbbewegungen. In den Schneemann-Bildern beispielsweise verströmt ein rot-weißes Karodesign den zünftigen Charme eines Geschirrtuchs, doch was hat das mit der Kinderglück verheißenden Figur aus Wintertagen zu tun? Und ist diese Konnotation überhaupt gemeint? Manch eine der figurativen Fusionen mutet paradox an, alle erscheinen eigenwillig oder gar skurril und geben zu denken. Interferierende Bildfragmente verdichten sich optisch, wobei formale Ähnlichkeiten Ideenverknüpfungen erzeugen, die überraschen und den Blick schärfen – ein Merkmal, das schon seit den frühen Zeichnungen die Gestalt sämtlicher Arbeiten des Künstlers charakterisiert. Neben den technisch bedingten malerischen Effekten springen in den Pastellen zwei Sujets ins Auge: mit breiten Balken ausgeixte Gegenstände und eng aneinander gefügte Bilderrahmen, wie man sie von musealen Depotwänden her kennt. In den übrigen Werkgruppen tauchen sie nicht auf. Vor allem die in der Art eines Andreaskreuzes bezeichneten Figuren sind ungewöhnlich. Erst werden sie auf der Fläche platziert und dann wiederum mit Nachdruck aus dem Kontext gelöscht. Handelt es sich um Korrekturen, unwillkürliche Meinungswechsel oder Provokationen? Ein Krokodil hat vor einem Adventskranz nichts verloren, vor der Teigwalze schon, denn es greift deren Umrisse auf. Eine durchgestrichene Kerze am Kranz könnte bedeuten, dass der erste Advent schon vorüber oder der dritte gerade angesagt ist. Vielleicht jedoch signalisieren die Kreuze nur Störungen, vereiteln unsere Erwartungen und konventionellen Wertungen? Oder dokumentieren sie kompositorische Anliegen? Die „Rahmenbilder“ an Stellagen etablieren andere, ebenso ausgefallene Perspektiven. Die Holzrahmen umranden Bilder, die sich als freie Farbspiele entpuppen und sich an kein Reglement halten, sondern explizit die Halt stiftenden Leisten ignorieren. Wolkige Schwaden, oft von Dunkelheit hinterlegt, entfalten sich über Grenzen hinweg. Natürliche oder landschaftliche Objekte sind selten identifizierbar – Wolkenhimmel etwa oder Wasserspiegelungen –, stattdessen dominieren vage Impressionen atmosphärischer Phänomene. Keimen, wie in einem Exemplar, weibliche Brüste aus der Unschärfe empor, manifestiert sich darin eine bewusste oder aber absichtslose Nähe zu den ironisch überspitzten Extravaganzen René Magrittes. Surreal und fantastisch muten auch die Bildräume an, an deren dicht bestückten Stellwänden sich einzelne Fenster in unterschiedlichen Winkeln öffnen. Zudem kann ein verführerisches Kolorit an Fußboden und Decke den Raum in nicht einsehbare Sphären erweitern. Anziehungskraft und Misstrauen lösen sich ab. 2003 integriert Folmer über Frottagen natürlicher Oberflächen organische Strukturen in die teils verwischte, teils grafisch konfigurierte Farbgebung seiner Pastelle. Holz, dessen Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten ihn faszinieren und das ungefähr zeitgleich über seine Holzschnitte auf Baumstämmen im Rahmen weltweiter Naturprojekte große Bedeutung für sein Schaffen gewinnt, findet so nicht nur als Bildmotiv, sondern auch als Material Eingang in seine Malerei. Der Kreis schließt sich. Die Flut, mit der er innerhalb seines persönlichen Kosmos dank eines individuellen Baukastenprinzips wie ein Getriebener immer wieder neue Bilder kreiert, lässt sich als selbstreferenzielles System2 begreifen. Die von ihm hervorgebrachten Ergebnisse gelten per se, aus sich selbst heraus und unabhängig vom Willen des erkennenden Subjekts. Allein die Erscheinungen der Dinge können wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand erfassen.3 Und so obliegt es unseren eigenen Fähigkeiten, die Gegebenheiten zu rezipieren und zu deuten. An sich geht es im künstlerischen Œuvre Wolfgang Folmers um genau das, was Kunst generell definiert: eine gestalterische Transformation subjektiv gefilterter Wahrnehmungen in neue Fakten. Als ob es kein Morgen gäbe Textbeitrag Petra Wilhelmy, „Gegebenheiten“, 2023 Galerie der Stadt Backnang Die Kunst Wolfgang Folmers ähnelt einem Feuerwerk: Aus einem einzigen Körper entspringen einem Sternenregen gleich tausend glühende Funken, wobei die erste Explosion schon die nächste zündet. Man kann sich kaum satt sehen an dieser Menge ausgestreuter Geistesblitze und fragt sich erstaunt, wie ein einzelner Mensch so viel kreative Energie versprühen kann, und zwar auf ebenso dynamische und dezente Art. Der Künstler zielt nämlich nicht auf Effekte ab, die nach Aufmerksamkeit heischen, bevor sie knallend verpuffen. Er versucht keineswegs, mit plakativen Bildproduktionen Aufsehen zu erregen oder gar allgemeines Gefallen zu generieren. Er macht einfach sein Ding, und das ungewöhnlich gut. Der Qualität tut es keinen Abbruch, dass er 1999 seinen Stil abrupt ändert. Ab dann legt er seine Zeichnungen, Holzschnitte und Malereien schlicht an, beinahe wie von Kinderhand und darin den gewollt primitiven Darstellungen Picassos nahestehend, mit dominanten Konturen und Flächen. Gerade die formale Minimalisierung forciert die Wahrnehmung des souveränen Strichs und des gelungenen Wurfs. Die oft konträren Elemente und komplexen Bezüge bieten immer wieder neue Möglichkeiten an Zuordnungen und Interpretationen. Franz Joseph van der Grinten erkennt bereits 1994 „die Kraft und die Fülle des Barocks" in Folmers Schaffen, eine Fülle, die „nichts Anderes als der leidenschaftliche Wunsch [ist], der Wirklichkeit habhaft zu werden“ – voller Hingabe und unter dem Bewusstsein unvermeidlicher Vergänglichkeit. In der Tat ist sein Œuvre eine Quelle intensiver Aneignung, Bewältigung und Erweiterung von Realität. Sein Gestaltungsspektrum erweist sich als offen und ungemein vielseitig. Er arbeitet exzessiv, bevorzugt seriell, in Bilderreihen und Videos. Alles entfaltet sich im Fluss, intuitiv ergibt sich ein Werk aus dem anderen, bis die Flut allmählich verebbt. Teils instinktiv, teils reflektiert bedient er sich bei seiner Spurensuche Methoden wie Fragmentierung, Überblendung, Montage, Verdoppelung, Spiegelung und Kombination zusammenhangloser Motive, um Widersprüchliches oder Äquivalentes aufzudecken. Mit den Themen, die ihn bewegen, befasst er sich oft multimedial. Wolfgang Folmer sieht sich im schöpferischen Prozess selbst „in einer Art Trance […] als Handelnden, mein Körper agiert. […] Das Hervorbringen von Bildern folgt einem inneren Handlungsimpuls, ist konzept- und absichtslos. Das Reflektieren folgt im Anschluss – dazu ist Abstand notwendig. Ich nenne es ein ‚Nach-Denken‘.“ Schonungslos verausgabt er sich in Phasen absoluten Schaffensdrangs, geht radikal und voller Präsenz an den Rand der Belastbarkeit und findet im Anschluss trotzdem Elan für künftige Projekte. Das Arbeiten in unterschiedlichen Techniken – Fotografie, Video, Musik, Performance, Druckgrafik, Malerei und besonders Zeichnung – als auch der Wechsel von den akribisch in altmeisterlicher Tradition ausgeführten zu den kindlich aussehenden Zeichnungen bedeuten für ihn jeweils einen befreienden Sprung. Hier zeigt er Mut und die Bereitschaft zu scheitern, wie die Maus, die sich ihm einst in existenzieller Bedrängnis mit aller ihr zur Verfügung stehenden Muskelkraft entgegenschleuderte, oder der Schlittschuhläufer, der sich für seine Kunstfiguren zum kompromisslosen Abheben vom Eis überwinden muss. Um zu vermeiden, dass wachsende Routine Reproduktionen des Immergleichen begünstigt, wagt er den Salto auf bislang unbeackertes Terrain und geht neue Wege. Von klassischen Bildgegenständen schlägt er einen Haken zu Gestalten aus dem Märchen- und Spielzeugreich, vom Persönlichen, Unscheinbaren und Alltäglichen zu befremdlichen Szenografien und hyperreal leuchtenden Nachtpanoramen. Mit unkonventionellen Herstellungsverfahren überlistet er sich, indem er mittels Kontrollverlust seine subjektiven Fähigkeiten unterwandert und dadurch in vorher nicht absehbare Dimensionen dehnt: Beim Fotografieren angestrahlter Architekturkomplexe etwa entlockt er der Dunkelheit eine intensive, malerische Farbigkeit. Beim Zeichnen arbeitet er sporadisch mit geschlossenen Augen, mit der linken Hand, hinter dem Rücken, auf am Boden liegendem Papier, immer sehr konzentriert aus dem Inneren heraus. Der eigene Körper ist sein Instrument, auch in den bildgebenden Medien. 2001 hält er während eines temporären Atelieraufenthaltes im Kunstverein Schwäbisch Hall seine zeichnerischen Aktionen mit der Filmkamera fest. Diese Performance dokumentiert den physischen Einsatz und die Integration des ganzen Leibes in die lebensgroßen Kohlezeichnungen über das Skizzieren von Bewegungsmustern oder demonstratives Einpassen in die bereits angefertigten Umrisse auf dem Blatt im Hintergrund. In ähnlicher Weise demonstrieren seine Videoaufzeichnungen von 1997 in der Eberhard-Ludwig-Kaserne, Ludwigsburg und 2000 im Künstlertreff, Stuttgart, diesmal spartenübergreifend mit selbst erzeugter Percussion nachträglich unterlegt, sein experimentelles, überaus geschicktes Prozedere. Prinzipiell geht Wolfgang Folmer in seinen bildhaften Inszenierungen von Erinnerungen oder Fundstücken aus, seien es Erlebnisse, Sachverhalte, Spielzeug, Malbücher, die Stämme umgestürzter Bäume oder Orte, die als unattraktiv bzw. unzugänglich gelten. Viele seiner Prototypen hat er abrufbar im Gedächtnis gespeichert. Im Werkprozess entwickelt er aus ihnen spontan unbequeme und irritierende Seh- und Denkangebote. Es schwelt in der uns präsentierten, scheinbar heilen Welt, Gewohntes wird zur Metapher für seelische Nöte. Die „Wirklichkeitsunruhe“, die Gunnar Schmidt seinen Fotografien sehr treffend attestiert, ist ein Charakteristikum seines gesamten Schaffens. Was wir sehen und zu (er)kennen meinen, hat jeweils auch eine dunkle, schwer abwägbare Seite. Dieses kunstimmanente Phänomen bringt das zum Ausdruck, wofür John Burnside den altschottischen Begriff „glamourie“ gebraucht, nämlich „jenen verzauberten Zustand, in dem alles, auch das einfachste Ding, das simpelste Ereignis, voll magischer Möglichkeiten steckt.“ Videos Schon im Studium entdeckt Folmer neben der Fotografie das Video als Kunstform. Ab 1987 dreht er kurze Filme, in manchen Jahren mehrere, dazwischen gibt es immer wieder Pausen. Meistens ist er selbst der Akteur, in künstlerisch, musikalisch oder mimisch tätiger und, wenn er nicht vor der Kamera steht, in beobachtender und protokollierender Funktion. Die Kamerajustierung ist fix, Bewegung findet lediglich vor dem Objektiv statt. Die kann sich mitunter sehr langsam vollziehen wie im Beispiel der drei Kuckucksuhren aus dem Jahr 1991, deren Pendelschwung sich kaum merkbar verschiebt, oder dem einer in Zeitlupentempo über eine Holzplatte kriechenden und im Nirgendwo verschwindenden Weinbergschnecke. Zeit ist auch sonst relevant, entweder im Zeitraffer beschleunigt oder als Verlauf von Alltagsbegebenheiten, so in den Strandszenen in Brasilien und den Aufnahmen der täglichen Autofahrt zur Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste von 1992, hier drastisch kombiniert mit im Radio übertragenen Nachrichten zum Golfkrieg. Individuelles, beschütztes Leben und verhängnisvolles, folgenschweres Weltgeschehen prallen hart aufeinander. In vielen Videos steigert der Klang von Schlaginstrumenten die Spannung, in anderen ist der originale Begleitton der Bildaufzeichnung zu hören, vom Motorbrummen über Klopfrhythmen, Ticken, Musizieren, Umgebungsgeräusche bis zu bewusst gesprochenen Kommentaren. Die Beschränkung auf Schwarz-Weiß vereinheitlicht den Großteil der Beiträge, Farbe bleibt die Ausnahme. Analog zur Fotografie wird sie in dieser Technik bei ihm erst ab 2018 zu einem signifikanten Gestaltungsfaktor. Fast beiläufig fängt die Kamera 1990 Situationen und Klänge von Meeresrauschen, eines Fastnachtsumzugs und eines Volksfestes, dem Canstatter Wasen, ein. Die traditionellen Veranstaltungen erzählen sich in epischer Breite ohne zusätzliche persönliche Beurteilung selbst. Sie zeigen eine durch Alkoholkonsum aufgeheizte, kurzfristige Realitätsflucht der nach Attraktionen, Ablenkung und Vergnügen heischenden Bevölkerung. Dagegen ist der im selben Jahr produzierte Film über die Schlacht von Verdun visuell und auditiv präzise komponiert. In rasenden Sequenzen sind die aus einer abgefilmten Leinwandprojektion im Mémorial de Verdun per Schnitt isolierten Einzelbilder zu einer vibrierenden, beängstigenden Reihe addiert und mit einem Stakkato an Trommelschlägen derart intensiviert, dass man atemlos die Detonationen der Gefechte zu spüren meint. Dieses nur einminütige Werk evoziert höchst effizient einen bleibenden Gesamteindruck des kriegsbedingten Grauens. Sind die eigene Person und ihre Handlungen Objekt der Erkundung, wählt der Künstler gerne partielle Ansichten: Kopf mit Schultern, zappelnd und geschnürt, ein schemenhaftes Bein, rhythmisch hämmernde Finger, Kinn und Mund. Diese Details kehren Denkmuster um, indem sie einen anderen als den allgemein bekannten und gewohnten Blick auf den Körper gewähren. Im Video „Bleylebau“ mit einer Schuhklangperformance spielen Hände und Füße als gleichbe-rechtigte Protagonisten ihr Instrument auf dem Boden. Der Fokus liegt auf ihren Positionsände-rungen, dem Heben und Senken, dem Klatschen der Sohlen und deren Widerhall im leeren Raum. Wie stark die in Pantoffeln steckenden Hände unseren Füßen ähneln, ist fappierend und kann auch verstörende Assoziationen hervorrufen. Dasselbe tun die oralen Selbstbetrachtun-gen, die waagerecht gespiegelt dem Kinn den Platz der Nase einräumen und so die gesamte Mimik konterkarieren. Die Aktionen von Mund und Zunge, das Lecken, Schmatzen und Prusten wecken Emotionen, die zwischen Amüsement und Abscheu schwanken. Von solchen Körperfragmenten abgesehen können auch bei Filmaufnahmen aus größerer Distanz optische Schnitte das Geschehen formal spalten und damit den szenischen Ablauf verfremden. Das 1990 an der brasilianischen Küste gedrehte Video, in dem ein zentrales Kreuz aus vertikaler Stange und horizontaler Stromleitung das Bildfeld viertelt, ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Wirklichkeit vor der Kamera und die unter dem individuellen Blickwinkel des Beobachters damit eingefangenen Bilder weichen voneinander ab. Die Ereignisse am Strand blieben belanglos, wäre da nicht dieses Kreuz mit im Bild, das real gar nicht vorhanden ist, sich vom eingenommenen Standpunkt aus jedoch prominent in die Sicht schiebt. Das Fadenkreuz im Zielfernrohr einer Waffe kommt einem in den Sinn, aber auch das Symbol christlichen Glaubens oder die Quadranten eines Koordinatensystems. Zwei Linien bloß, und das Bedeutungsspektrum der Darstellung expandiert um viele Ebenen. In der Anfertigung komplexer ist das Video mit Szenen, in denen ein Musikverein Eigenkompositionen Folmers vorträgt. Im Vorfeld hatte er die Partitur eines Marsches zerschnitten und die Passagen anders zusammengesetzt. Die Soundcollage hört sich schräg an, und die von Brüchen und Sprüngen durchwobene Gesamtaufführung mutet urkomisch an. Mit viel Humor präsentiert der Film das disharmonische Ergebnis einer aufwendigen, dabei vorsätzlich provisorisch erscheinenden, absurden Darbietung. Im Unterschied zu diesem konzeptuellen Ansatz liegt den aktuellen Videos eine Intention zugrunde, die an frühere Arbeitsnachweise anknüpft: die digitale Dokumentation seines produktiven Schaffens im bild- und tonkünstlerischen Metier. Wolfgang Folmer nimmt uns mit in seine Atelierräume und in die Schweizer Alpen. Wir sind sehr dicht an seinen Erlebnissen, an der meditativen Versenkung beim Schlagen von Beats und 2022 in Sta. Maria Val Müstair außerdem an der grandiosen Bergkulisse und der Übertragung der davon ausgelösten Impressionen in artistische Ausdrucksformen. Die fungierte Kommunikation hilft dem Künstler, seine Isolation an diesem einsamen Ort und die Erfahrung des Extremen und Gigantischen zu bewältigen. Eher als die abstrakteren Schwarz-Weiß-Fassungen entsprechen die Farbfilme unseren Erwartungen an das Medium. Unverfälscht und originell veranschaulichen sie, wie experimentierfreudig und strapazierbereit Folmer seine Ideen entfaltet, wie er mit Leibeskräften agiert, wie er sein Equipment an die Rahmenbedingungen anpasst, sich mit Wenigem begnügt und Materialknappheit mit einem Überschuss an Fantasie aufwiegt. In den Zeichnungen genügen Papier und Kohle, um mit spontanem Linienduktus und einer an die Grafiken Ernst Ludwig Kirchners erinnernden Expressivität die Großartigkeit und zackige Schroffheit des Gebirges nachzuempfinden. Mit den Bergbildern greift er die Landschaftsthematik wieder auf, der er sich bereits 2003 ebenfalls in Kohlezeichnungen widmete, jedoch wählt er nun einen härteren, linien- und kontrastbetonten, stürmischeren Zeichenmodus. Bei auditiven Einspielungen behilft er sich provisorisch, indem er Gebrauchsgegenstände umfunktioniert, etwa Möbelstücke und Kochgeschirr zu Musikinstrumenten macht. Völlig konzentriert geht er in dem auf, was er tut. Die Kameraeinstellung wechselt zwischen Aufsicht, frontaler Aufnahme und Fokussierung auf Details, primär die tätigen Hände. In einem gefilmten Doppelporträt kombiniert er getrommelte Rhythmen zu einer interaktiven Klangperformance. Immer sind es sehr originelle, klar strukturierte und erfinderische Operationen. Zeichnungen Wolfgang Folmer zeichnet ein Leben lang. In großen Serien untersucht er Themen und Gestaltungsmodalitäten und legt damit den Grundstock anderer Werkgruppen. Diese unverzüglich anwendbare, unmittelbare Technik eignet sich als ideales Ventil für seinen instinktiven, bewegungsaffinen, oft ungestümen Schöpfungsdrang. Unorthodoxe und die Grenzen gängiger Genres überschreitende Verfahren verhindern einerseits eine sich abnutzende Gleichförmigkeit und andererseits eine hervorstechende Virtuosität. Stattdessen garantieren sie sperrige, sehr vitale und innovative Seherfahrungen. Zwischen 2001 und 2006 entsteht eine umfangreiche Reihe von Zeichnungen in Bleistift, Bunt-stift oder Mischtechnik auf Transparentpapier. Sie funktionieren nach den für ihn typischen Prinzipien der Repetition, Schichtung und Neuordnung. Der erste Eindruck lustiger Spielereien, an denen Kinder ihre Freude haben könnten, verblasst, sobald man genauer hinschaut. Zwar erscheinen uns die Zwerge und Tiere, die Wagen, Sonnen und Häuschen aus Bilder- und Malbü-chern vergangener Tage vertraut, dennoch haftet ihnen etwas Ungelenkes und Ungereimtes, manchmal sogar Monströses an. Sie purzeln auf irritierende Weise durcheinander: gedreht, kopfüber, schwebend, ohne Halt. Oft sind sie nicht im selben Raum, sondern vorder- und rück-seitig auf mehreren Folien angesiedelt und kommen daher nur indirekt und zufällig in Berüh-rung. Sie begegnen sich und sagen sich nichts – oder doch? Die Figuren sind zu Silhouetten verflacht, ganz plan oder wie bei Laubsägearbeiten aus dünnen Holzplatten mit seitlicher Kante und erlangen bloß hier und da mehr Volumen. Schwarze Schatten drängen einzelne Schablonen gespenstig nach vorne. Das lichtdurchlässige Papier erlaubt eine subtile, kaum wahrnehmbare Stufung diverser Ebenen, deren Motive den Raum surreal verdichten. Allerdings findet die Fusion rein im Formalen statt, im Gegensatz zum Comic gibt es keine stringente Bilderzählung. Verstreut kristallisieren sich Handlungszentren heraus, darunter nicht selten sexuell oder gewalttätig aufgeladene. Mehrdeutigkeiten und Provokationen rütteln heftig an der Fassade naiver Unbekümmertheit. Hin- und hergerissen fühlt man sich magisch angezogen von der fantastischen Atmosphäre dieser Traumbühnen, auf denen die Puppen und Phantome tanzen und das Harmlose einen Pakt mit dem Grausamen schließt. Bleistiftlinien markieren jeweils das Grundgerüst des Bildes, die Konturen der Objekte und, falls vorhanden, Binnenstrukturen, die verschiedentlich Holzmaserungen, also einen natürlichen Werkstoff imitieren, dem Wolfgang Folmer insgesamt hohen Wert beimisst. Dorothee Götte-Heiss spricht vom „Primat des Holzes“, Beatrix Rey betont auch seinen „Sinn für die lebenden Bäume“. Neben den organischen Texturen wirken seine Leerformen seltsam materielos. Die Farbfüllungen, ob mit Buntstift oder mit Pinsel und Acryl, erfolgen nach Komplementierung der Figuren durch kontrastierende Schatten im übernächsten Schritt. Dabei sind die vielen Vorleistungen unentbehrlich, um zu Neuem und bis dato Unerprobtem zu gelangen. Sie sind Komponenten einer einzigen Kreativitätskette. Initiieren in den Kohlezeichnungen Abdrücke von Motiven den Fortgang der zügigen Gestaltung auf den leeren Blättern, so kurbeln beim Arbeiten auf transparentem Trägermaterial durchgepauste Bestandteile den Ideenfluss an. Nach dem Modell von Baukastensystemen generiert Folmer aus kopierten und frei wiederholten Versatzstücken und weiteren Faktoren eng verwandte Bildvarianten. „In der Zusammenstellung und Anordnung liegt die Aussage. Solches Denken zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, durch die verschiedensten Arbeitstechniken.“ Der Umgang mit der relativ spät als Ausdrucksmittel eingesetzten Farbe manifestiert insofern eine Herausforderung für ihn, als er sie weder in Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Vorbild noch reflektiert nach ästhetischen Gesichtspunkten gebraucht. Er wählt seine Farben frei und bezieht den Zufall mit ein. Außergewöhnliche Kombinationen lässt er mit Bedacht zu. Welche Felder er koloriert und welche er linear beibehält, entscheidet er intuitiv. In Mischtechnik verbindet er Farbzonen zu kaum entschlüsselbaren, gewebeartigen Konglomeraten, die sich in durchscheinenden Passagen wiederum vielversprechend öffnen. Beim Verzicht auf Farbe treten die formbestimmenden Umrisslinien markanter hervor und überziehen das Blatt mit einer vereinheitlichenden All-over-Struktur, die zwar einem Automatismus unterliegt, aber konträr zum Action Painting immer dinglich orientiert bleibt. Folmers untrennbar verzahnte Bildelemente funktionieren unabhängig vom Ganzen genauso gut allein oder in anderen Kontexten. Die Überfülle fabelhafter und ambivalenter Hirngespinste mancher Zeichnungen kann als Reminiszenz an den Horror vacui des Barocks interpretiert werden, der das Orgiastische und Vergängliche gleichermaßen feiert. Auch Wolfgang Folmer integriert kontroverse Wirklichkeiten in seine Bildwelten: Fiktion und Fakten, Faszination und Unbehagen, Witz und Schrecken, überbordende, wundersame Imagination und animalische, ins Groteske verzerrte Brutalität. Holzschnitte Der Übergang von den Zeichnungen zu den Holzschnitten ist fließend, denn die Inhalte werden in Zeichnungen vorbereitet und die charakteristischen Silhouetten auch in der Drucktechnik zu kompakten Rapporten verflochten. Doch gibt es signifikante, vom Medium bedingte Unterschiede: Fissuren oder Unschärfen im Abdruck. Die Abzüge auf Papier indessen, die bei künstlerischen Druckverfahren traditionell als das eigentliche Werk gelten, repräsentieren für Folmer nur vorübergehend und ausschnitthaft das Resultat seiner holzbearbeitenden Tätigkeit. Er schneidet das Relief nämlich nicht wie üblich in einen flachen Druckstock, sondern ohne Zwischenstation in den von Rinde und Ästen entledigten, glatt gehobelten und mit schwarzer Farbe überzogenen Stamm von Pappeln, Buchen oder Eukalyptusbäumen. Diese von ihm seit dem Bildhauersymposion Marbach im Jahr 2000 praktizierte Methode statuiert ein Alleinstellungsmerkmal seiner Kunst. Die bis zu 16 m langen, aufgrund der Rundung aus nur einer Position nicht in Gänze einsehbaren Säulen sprengen die Kunstgattungen zwischen Druckgrafik und Bildhauerei. Es sind Skulpturen, die horizontal lagern und nicht als Zeichen des Triumphs vertikal aufgerichtet werden, wie es der Prototyp mit Erzählfriesen reliefierter Säulen, die den Sieg über die Draker akklamierende Trajanssäule im antiken Rom für Jahrhunderte vorgab. Ebenso können sie als Druckform für Handabreibungen in ausführbaren Maßen nach dem Modus von Monotypien fungieren. Das Gesamtbild splittet sich collageähnlich in locker umsäumte, eine provisorische Leichtigkeit transportierende Fragmente. Das Ergebnis ist ein Weißliniendruck mit weißen Linien in schwarzen, von Holzmaserungen geprägten Flächen. „Dieser Effekt erweckt die Bilder zum Leben und bringt etwas von der Natürlichkeit und Naturverbundenheit des Baumes aufs Papier.“ Die ursprünglich gewölbte Formgebung wird nach dem Druck in ein flächiges Bild auf Papier oder eine Stoffbahn abgefärbt. Nach dem Abzug wird weitergeschnitten und dadurch mehr Weiß freigelegt, so dass bald nur noch „kleine schwarze Inseln mit Bilderresten“ übrig bleiben. Dann kann die obere Holzschicht komplett abgenommen, erneut geschwärzt, geschnitzt und abgedruckt werden, so oft, bis der Stamm am Ende seine Substanz verliert. Für Folmer ist wichtig, dass das Material, ganz gleich in welchem Umfang, nach Abschluss seiner Tätigkeit in den biologischen Kreislauf zurückkehren kann. Mancherorts lässt er die fertigen Stämme draußen liegen, damit sie sich auflösen können. Die meisten der Baumstamm-Skulpturen und -Drucke sind eingebunden in öffentliche Projekte: internationale Bildhauersymposien und Arbeitsstipendien in Deutschland, Europa, den USA und China. Bei seinen Aktivitäten passt Folmer die Werkgenese an die Gegebenheiten vor Ort an, seien es äußere Bedingungen oder Interaktionen mit anwesenden Personen. Er arbeitet im Freien oder in Innenräumen, allein, unter Beobachtung oder mit anderen gemeinsam. Kinder finden leicht Zugang zu dieser spielerischen, unbefangenen Praxis, sich kreativ auszuleben. Auch die Motive kommen ihrer Vorstellungskraft entgegen. Für ihn selbst bedeuten solche Kooperationen eine logische, ungekünstelte Erweiterung seines Entfaltungspektrums. 2012 fällt er die Entscheidung, auf Abzüge zu verzichten und lediglich die Druckstöcke als Werk zu präsentieren. Seitdem stehen die Holzreliefs, egal ob auf Stämmen oder Druckplatten, für sich. Bei den Baumstämmen regt ihn die Beschaffenheit des Gehölzes zur grafischen Ausgestaltung der Oberflächenstruktur an. Die reicht von abstrakten Mustern fein ziselierter Linien und ausgefranster Puzzleteilchen über scharf konturierte, gegenständliche Elemente im Stil von Comics bis zu alles bedeckenden Kalligrafien. Obwohl inhaltlich völlig disparat, lassen sich formale Analogien zur griechischen schwarzfigurigen Vasenmalerei des 7. bis 5. Jahrhunderts v. Chr. feststellen, vorrangig in den Schnitzwerken, die die Schattenbilder markant vor dem hellen Hintergrund isolieren. Auf den Keramiken sind zwischen ornamentierten Banderolen narrative Friese mit Szenen aus Mythologie und Alltagsleben aufgereiht. Folmer dagegen mischt partikuläre Bedeutungsträger ohne geordnete Chronologie zusammen und erzählt in jedem Arbeitsgang neue Episoden. Die Vasenmalereien ergänzen als wichtige Forschungsquellen das Wissen über Götterglauben und Traditionspflege der Antike, während Folmer den umgekehrten Weg geht und aus überliefertem Bildungsgut Bruchstücke extrahiert. In der ästhetischen Ausstrahlung aber besteht eine ins Auge springende Nähe. Kräftige Kontraste und eine schematische Vereinfachung bringen in beiden Fällen starke, expressive Bilder hervor. Die Holzschnitte auf riesigen, bis maximal 8,5 m² großen, nur 8 mm dünnen Sperrholzplatten sind gar nicht erst als Druckstöcke konzipiert, obgleich Abzüge von den schwarz eingefärbten Platten durchaus möglich wären. Es handelt sich bei diesen Arbeiten um Flachreliefs vom Charakter gedruckter Grafiken, mit schwarzen Linien auf hellem, monochromem Grund oder umgekehrt. Prägnante Striche umreißen Leerformen, kennzeichnen Details und Flächen. Wie in den Zeichnungen schieben sich mehrere Bildkulissen über- bzw. ineinander und verschmelzen Dinge aus unterschiedlichen Bezugsrahmen. Maßstäbe, Perspektiven und Realitätsgrad differieren, mitunter bleibt unklar, was sich davor und was dahinter befindet. Ohne Information über Licht- und Schattenverhältnisse erscheint der bühnenartige Raum bizarr verflacht. Die Konstruktion des Bildgefüges unterstreicht die Paradoxie der dargestellten Situation. Dabei verursacht die Monumentalität bestimmter, auch gutartiger Figuren beunruhigende Gefühle. Die Motive wurzeln in Märchen, Spielzeugkisten, Wohnzimmern und kleinbürgerlicher Idylle. Wolf, Hirsch und Hund, Gartenzwerge, Schaukelpferd, Teddybär und Rotkäppchen haben ihren Auftritt, dazwischen Tische und Stühle, Bauklötzchen und Grasbüschel. Kritzeleien zackiger Blitze und spinnwebenartige Vernetzungen verunklären die Szenerie, aus deren Gemenge bei längerer Betrachtungszeit die Vexierbilder geheimnisvoller Gestalten auftauchen: Pinocchio, Krokodil oder Schlage. In den hellen Holzschnitten mit präzisen Linien aus schwarzem Holzkitt weiten Materialschilderungen von Holz, Backstein oder Fliesen und historisierende Aspekte wie schmiedeeiserne Zierrate oder Biedermeiertapeten das semantische Feld. Folmer lotet explizit die Grenze zum Kitsch aus und schlägt ihm mit Hilfe abstruser Verquickungen ein Schnippchen. Er „stellt […] typische Klischees auf den Prüfstand“, indem er Kultfiguren des volkstümlichen Geschmacks als Akteure eines absurden Theaters entlarvt, das im gleichen Sinne Schönfärberei und Demaskierung als Ausdruckspotenzial in Anspruch nimmt. Vektorgrafiken Bei den ab 2018 entstandenen Vektorgrafiken auf Fotopapier wird das Druckergebnis wieder entscheidend. Die Zeichnung entsteht auf digitalem Weg, was außer einer körperlichen Arbeitserleichterung den zentralen Vorteil birgt, die Bildgröße nach Bedarf verlustfrei zu skalieren. Drucke in beliebigen Formaten sind möglich, auch in sehr großen. Zudem eignet sich diese Technik ideal zum Transfer von Bildmotiven in raumhohe Wandzeichnungen, die Wolfgang Folmer 2008 zum ersten Mal künstlerisch bewältigt – damals mit Hilfe von Projektoren, neuerdings mit Beamern. Seit 2022 setzt er in Kooperation mit Bettina van Haaren konstellative Raumkonzepte um. Neben den temporären, für die Zukunft anhand fotografischer Dokumentationen gesicherter Wandarbeiten beziehen sie auch gerahmte Grafik mit ein. Als umschließendes Raumerlebnis besonders intensiv wahrgenommen, vermitteln die in der Formensprache klar voneinander abgegrenzten Positionen im Dialog bemerkenswerte inhaltliche Berührungspunkte. Im Erscheinungsbild korrespondieren die Vektorgrafiken mit den schwarzgrundigen Holzschnitten. Bald halten Buntfarben Einzug in die bekannten schwarz-weißen Ausführungen. Frequenz und Zuordnung der Farbflächen alternieren in den Einzelwerken zwischen Schwarz, Rot, Weiß und Lachsrosa. Die Signalwirkung dieser Farben erhöht unsere Alarmbereitschaft bezüglich der zerstückelten und sich antinomisch durchkreuzenden Dinge. Es gibt sie nicht, die heile Welt! Im schönen Schein lauert Unheil. Folmers Bilder senden subtile und komplexe Botschaften aus. Das Schlummerpüppchen gleicht einem toten Baby, angefahren von einem Jeep, platt gewalzt vom lustigen Schwein oder aufgebahrt inmitten einer Gruppe von Kindern. Der Zug zerfetzt den Motorradfahrer, das Schwein zerquetscht Kind, Zwerg oder Motorrad. Rotkäppchen mit aufreizend geschürztem Röckchen und gespreizten Beinen nimmt je nach Drehung eine Hock- Knie- oder Liegeposition ein, deren obszöner Beigeschmack im Hinblick auf sexualisierte Gewalt und Kinderpornografie bitter aufstößt. Die Kompositionen werden immer dichter und undurchdringlicher. Das mit einem Potpourri aus Märchenfiguren, Kuscheltieren, Spielgeräten und Fahrzeugen postulierte Kinderglück gerät peu à peu ins Wanken und entpuppt sich am Ende als trügerische Illusion. Unschuld und Unbeschwertheit sind gefährdete Güter, unterschwellig schleicht sich das Böse ein und packt gerne auch offensiv zu. Wir müssen uns diesen Gegebenheiten stellen, den unumstößlichen, äußeren Tatsachen wie den subjektiv als reale Fakten empfundenen Erinnerungen und Gefühlen. Erkenntnis verlangt eine kognitive Beleuchtung des Gegebenen unter Berücksichtigung sinnlicher Eindrücke. Kunst bietet eine Möglichkeit, diesen Prozess zu vollziehen. Wolfgang Folmer nähert sich in seinem Œuvre dem Problem mit Spontaneität und Entschiedenheit. Von schönen und schmerzlichen Erfahrungen distanziert er sich durch experimentelle Verfremdungen, immer auf der Suche nach Aufklärung und Offenbarung unbekannter Parameter. So enthüllt er meist nur am Rande Registriertes und macht die Widersprüchlichkeit des Vertrauten auch für andere sichtbar. Nachtstücke und Arien Katalogbeitrag von Gerhard van der Grinten, „lichterloh“, 2022 Galerie Palais Walderdorff Nun, bei der Erde und des Winds Verschweigung Petrarc Die Arglosen mochten die Photographie für wahr halten. Doch war dies immer schon ein Irrtum gewesen. Dabei: erst lange nach der Erfindung der Linsen und den Erfahrungen mit dem Phänomen der Camera Obscura, mit der sich beispiellos phantastische, wiewohl vergängliche Bilder auf die Wände zaubern ließen, wurde es mit der Errungenschaft fixierbarer Träger möglich, eine Abbildung jenes Lichtes festzuhalten, das durch ebendiese Linse gegangen war; eine Photographie, ein Lichtbild im wahrsten Sinne. Und damit überprüfbar, nicht nur flüchtige Erscheinung, was ein künstliches, technisches, nicht menschliches Auge wahrnehmen konnte. Bis dahin war aller festgehaltene Eindruck, sei es ein steigendes Pferd, die Wendung einer Tänzerin, die tumultuarisch verwirrenden Wasserstrudel auf den fabelhaften Zeichnungen eines Leonardos nur der Beobachtungsfähigkeit und Aufmerksamkeit ihres jeweiligen Autors zu verdanken und geschuldet. Man mochte die Phase glauben oder versuchen, sie beobachtend nachzuvollziehen. Oder sie selber mit dem Zeichenstift einzufangen. Und nun: war es möglich die komplexeste perspektivische Flucht, den Sekundenbruchteil der bewegten Volte nachzuvollziehen. Auch wenn die Länge der Belichtungszeit den Pionieren der Photographie noch stundenlange Geduld abverlangt hatte. Sich aber mit dem rasanten Fortschritt der Technik ebenso rasant verkürzte. Bis die schiere Menge der Bilder selbst das erneut bewegte Bild erlaubte, den ununterbrochenen filmischen Verlauf. Man erinnere sich: der erste aufsehenerregende Skandal des neuen Mediums bestand darin, dass die Zuschauer die schlichte, nüchterne Aufnahme eines einfahrenden Zuges in einen der Pariser Kopfbahnhöfe derart für bare Münze nahmen, dass sie in wilder Panik aus dem Saal der Vorführung zu flüchten versuchten. Die Photographie, kraft ihrer Genese selbst, erscheint also wirklich oder doch zumindestens wirklichkeitsgetreu. Dabei ist die Geschichte der Photographie schon von ihrem Anbeginn an eine Geschichte der Manipulation, die des Filmes unmittelbar nach seiner Invention eine des filmischen Tricks, der Überwältigung durch das, was man glaubt. Oder glauben möchte. Oder soll. Auch gegen besseres Wissen. Denn die vollkommene Magie ist ja diejenige, die undurchschaut den Naturgesetzen spottet, selbst wenn das Gezeigte ganz offenbar unmöglich ist. Das Bild der Dinge ist aber nicht das Ding an sich. Es ist es nie. Sondern immer ein eigenes, eine weitere Entität für sich. Und der gemalte oder photographierte Apfel bietet keine erhebenden Geschmackserlebnisse, wenn man hineinbeißt. Aber auch ganz abseits der Möglichkeiten des sublimen oder dreisten Betruges und der Täuschung, bedingt das menschliche Auge hinter der Linse den Blick auf das Bild. Weil jedes Bild notwendigerweise den Blick seines Schöpfers zeigt: es können derer nie zwei im selben Moment denselben Anblick sehen, dagegen stehen die Gesetze der Physik. Man müsste sich denn abwechseln. Dazwischen lägen immer Wimpernschläge, die die Welt weiter fortrückten. Und sich verändert. Und sei es nur um ein Nu. Und der, der schaut, sieht ja auch immer aus seiner individuellen Seherfahrung, die der Profession - der Cineast hat eine andere als der Bildhauer, der Maler, der Amateur -, die, die durch die persönliche Biographie geprägt und beeinflusst ist. Aufwuchs, Lebenserfahrung, Begegnungen, Verlust, Wissen, Geschmack, Vorlieben, Abneigungen, Aneignungen, Laune, Tagesform, Atemholen, Augenblick, einen Schmetterlingsflügelschlag in Peking. Die Photographie hat Wolfgang Folmer sein ganzes künstlerisches Leben lang begleitet. Oder besser, er hat sie sich als Ausdrucksmittel früh nutzbar gemacht und angeeignet. Als Fundus von Bildeindrücken, als Prüfstein für das eigene Sehen, als zweiten Blick. Und die Wegesspanne reicht von der einfachen technischen Ausstattung zu Anfang, über die experimentellen Verfremdungen im Stadium der Bildentwicklung in der Dunkelkammer, bis zu den elaborierten Möglichkeiten der Verfremdung und Nachbearbeitung im Rahmen der digitalen Photographie. Die, was das einfache analoge Objektiv nie gestattet hätte, auch die Akkumulation von Bildern, das Rendering zu großen Prospekten erlaubt, die über das Gesichtsfeld des Photographen wie des Betrachtenden weit hinausragten, dahin, wohin den Augen zu reichen gar nicht mehr möglich wäre. Die Zeit einfrieren in ihrem Übereinanderblenden, Dinge ausfiltern, andere präzisieren. Weiten. Und über die ganze Fläche eine gestochene Tiefenschärfe werfen, die dem Focus einer Linse einzufangen verwehrt wäre, sei es der der Kamera oder der des biologischen Auges. Und darin Bilder mit Details auflädt, die der natürliche Blick verunmöglichte. Denn sähe man alles, was sich dem Blick bietet, auf einmal, so würde die schiere Menge der Eindrücke die Aufmerksamkeit derart fesseln, dass man sich gar nicht mehr vom Platze bewegen könnte. Für Dauer. Unser Sehen aber, das uns sich unserer Lebenswelt stellen und sie bewältigen lässt, zumal in Situationen der Gefahr, muss notwendig aus der Menge der sekündlich auf uns einstürzenden Momente selektieren. Sonst lenkten die Augen uns nur ab. Und wären nutzlos. Ja dem Überleben abträglich. So eingefroren aber bekommen die Augenblicke dauerhafte Fassbarkeit. Der konkreten Situation selbst enthoben, kann man sich als Beschauer der Reihe nach auf all das Angebotene konzentrieren - oder sich darin fasziniert verlieren. Die Welt ohne Farbe, die Welt in reiner Schwarz-Weiß-Dichotomie verschärft in ihrer notwendigen Reduktion. Darin ist die Nähe zu seinen graphisch-zeichnerischen Arbeiten wohl am ehesten spürbar. Auch in den Sujets: nicht selten den verlorenen Dingen. Gehäufte davon manchmal, präsent und präsentiert, wiewohl entsinnt, da verlassen. Und damit ihrer Funktion verlustig. Zuweilen doppel- und hintergründig. Wo es etwa Kriegsspielzeug ist: ein Trüppchen miniaturisierter monochromer Kunststoff-Special-Forces, vollständig mit Stahlhelm, Bazooka und Schießgewehr. Lebensecht im Kleinen, in Habitus, Positur und Dienstgrad, aufgereiht auf einem Burgaufgang wie zu einer Revue der Ziegfeld-Folies, steigende Rösser dazwischen. Oder benebst dem Balettensemble der Matchbox-Schlachtkreuzer und Zerstörer mit ihren ausgelassenen 38cm-Zwillingsgeschütztürmchengesten. Man möchte sie fast mit Schmunzeln betrachten. Zumindest ehe man sich klarmachte, dass so ein kleines Plastikkerlchen mit seinem aufgepflanzten Bajonettchen auf seinem Sturmgewehrchen im Zweifel auch nichts anderes vorhätte, als einem anderen kleinen Plastikkerlchen die Plastikgedärme aus dem Leib zu schneiden. Dass in späteren Aufnahmen des Sinsheimer Technikmuseums die aufgebockten Flugmaschinen dann tatsächlich eher wirken, als wären sie nachlässig unaufgeräumte Spielzeuge, die so täten, als flögen sie, ist dann eine geradezu fabelhafte Koinzidenz. Das aufgegebene Objekt ist stets ein Nature Morte. Ein Memento Mori. Ein Vanitassymbol. Und aller Hinterlassenschaft eignet die Trauer über die Conditio Humanae. Und so ist ein ramponierter Stuhl, entbeint, ein Invalide und ein Überrest, stets auch ein Nachrufer auf den, der einmal auf ihm gesessen ist und nun auch nicht mehr weilt. Doch gleichzeitig vermag die Ruine hier Schausteller zu werden, ein Akteur und Akrobat, der Kunststücke aufführt, die einem kompletten Exemplar seiner Artgenossen nicht zu Gebote gestanden hätten: tatsächlich wirkt dann sein vollständiges Gegenstück wie ein Poseur. Lichtschläge in der aufgelassenen Halle geben ihnen Raum und Bühne, als Kante zwischen Helligkeit und Schatten, die selbst ein so bildnerisches wie dramatisches Element ist in dem Geschehen. Und ohnehin: ein Lichtbild entsteht ja da, wo es die Dunkelheit ausleuchtet, ohne sie vollständig zu vertreiben. Und dann gibt es ja tatsächlich das Verschwinden selber, das zum Thema wird. In der ausgreifenden Serie der Bilder aus der Wohnung der Frau Otto selig. Eine sehr persönliche Sicht auf die – für den Außenstehenden – vollgeramschte gute Stube der Erinnerungen, zwischen Nierentisch und Nippes und Spät-Gelsenkirchener Barock. Und die Verblichene, oder besser die allmählich Verbleichende ist da und dort noch anwesend, als Schatten, als Echo, als Erscheinung. Fast geisterhaft, fast nurmehr Protoplasma denn als körperliches Dasein. Das, was hinterbleibt, sind Sentimentalitäten, wertvoll und von tieferer Bedeutung nur für diejenige, die sie um sich versammelte, die ihren Kümmernissen abhalfen, Devotionalien, Kitsch. Doch erfüllt ja auch der Kitsch ein emotionales Bedürfnis, stopft dem Horror Vacui für eine Zeit das gähnende Maul. Hilft über die Abgründe und Verlorenheiten der Vergangenheit - und abgründig schimmert hier einiges - in eine endliche Zukunft, die vielleicht gar nichts anderes mehr ist, als der Schritt ins Dunkle. Alle Ordnung ist der letztenendes vergebliche Versuch, dem Zerfall Einhalt zu gebieten. Für eine Weile wenigstens. Es überstehen die Vorräte, die niemand mehr braucht, weil sie niemand mehr verzehren wird, es sei denn, es findet sich ein Aufmerksamer für diesen anrührenden Schatz. Es übersteht der Fundus an Materialien, mit denen man das längst zerfahrene Fahrrad instand setzen könnte, täte das denn wer. Oder hätte er es längst getan. Die unnütze Akribie des Nützlichen. Und dann setzen die Bilder ein, in denen sich die Gegenstände, über- oder übereinander belichtet oder ins Negativ verkehrt, zusehends auflösen und ganz Schattenspiel werden. In dem die Bedeutung der Formen nachruft, wie aus einer fernen Erinnerung. Sich der Fassbarkeit immer weiter entziehend. Bis sie reine graphische Ereignisse werden, Strukturen, Rapporte, Linienhaufen, Schwarz und Grau und Weiß. Wie jene, die einmal menschliche Gestalten waren, jetzt aber Phantome sind, von Aureolen umgeben, spukhaftes Negativ. Als wären sie nicht sie selbst, sondern die Aufnahme der Kirlian-Strahlen, die sie umgäben. Ist die farbige Welt wahrhaftiger? Zumindest wirkt ja jener blaugekleidete Herr mit dunkler Haut vor einer Schüttung unterschiedlich grauer und extravagant gelber Platten, schräg von oben betrachtet, eigentlich eher wie eine besonders raffinierte Komposition des holländischen Konstruktivismus. Aber auch, wenn sich die Wirklichkeit besser gibt als echt, bedarf es des empfindsamen Auges, das solche vollendeten Künstlichkeiten sieht und bemerkt und für wahr nimmt. Vier Baumschlümpfe hinter einer Leitplanke. Oder die auf den Kopf gestellten Reflexionen von Seenspiegeln, samt dessen, was sich darin spiegelt und in der Spiegelung, gleichwohl sie farbentsättigt sind, leicht verzogen und gewellt, und sich in ihren dunklen Zonen die Untergründe des Wassers, nicht der Himmel zeigen, die also, obwohl sie die Dinge verkehren, nicht weniger überzeugend wirken, als die Wirklichkeit. Eher mehr. Diese aber für sich selber, wenn man sie denn wieder ins richtige Lot dreht, verliert gegen die Tiefe der Teiche. Von da geht der Weg zu den zunehmend großformatigen Landschaften. Wobei man wohl vielmehr von einer Summa des Landschaftlichen reden sollte. Überwiegend sind sie menschenleer. Und wo nicht, sind jedenfalls nicht die wie beiläufig vorhandenen Personen das wesentliche Agens. Aber dann doch in ihrer Abwesenheit, ihren Hinterlassenschaften und Vehikeln, Räder, Automobile, in vollendeter Ordnung abgestellt und geparkt. Aber, da sie ruhen, plastischer Gegenstand. Kein Gewese. Überwiegend sind es nächtliche Ansichten, dem kommt der fehlende Publikumsverkehr entgegen. Wohl aber sind die Signale in Betrieb und leuchten über Straßen, die kein Mensch befährt. Flutlichter hellen Tennis- und Fußballplätze aus. Als bedürften jene ganz entseelt den Trost und Beistand von Licht. Gleißendes Strahlen über Baustellen, über die sich Kräne wie Wachen erheben oder gigantisch fremde Maschinen aus einem Science-Fiction-Film. Zur Ruhe gelegte Kirchplätze und Innenstädte. Baumpflanzungen in Reih und Glied als wären sie zum Appell angetreten. Eine Unterführung, aus der es derart in die nächtliche Umgebung gleißt, als befände sich dort der mythische Übergang in eine andere Welt. Es wäre auch gar nicht auszuschließen, dass dem so ist. Notwendigerweise ist das Licht gefiltert und verstärkt. Und verwandelt dadurch die Umgebung ins Kulissenhafte. Bahnhofsvorfelder mit Stellhäuschen, Geleisen, Verladerampen, so episch wie leer und darum dysfunktional. Zäune, die Unbefugte abhalten sollen, die aber gar nicht da sind mit der Absicht, sie zu übertreten. Manche Hausfassade scheint gegen einen tintenschwarzen Himmel wie aus einer Malerei von Radziwill entwischt. Vergrößert noch ins Riesenhafte geschieht dies in den Überschauen über die JVA Stammheim, das Bosch-Betriebsareal, das AKW Neckarwestheim. Und die schiere Ausdehnung der Gebäude, der Aufwand ihrer Erleuchtung im Gegensatz zum völligen Mangel an jenen, denen das Licht dienlich sein könnte, gerät vollkommen irreal. Nicht weniger als das aquariumgrüne Licht, das das Vorfeld eines bekannten Pflanzenmarktes in eine bizarre Unterwasserwelt verwandelt. Oder den Park des Rosensteinschlösschens in die ausgeleuchtete Kulisse eines geisterhaften Rokokospektakels. Hingegen sind die erleuchteten Nachthimmel über den Städten echt. Tiefdunkles Strahlen. Auch wenn es hinter einer Baumlinie auftaucht wie ein stiller Weltenbrand, ein künstliches Morgenrot. Lichtverschmutzung nennt sich das im Fachbegriff. Und macht als Phänomen die Beobachtung des Firmaments an vielen Orten der sogenannten Ersten Welt inzwischen unmöglich. Von der Irritation der Lebewesen, die zu ihren Schlafenszeiten damit behelligt werden, gar nicht zu reden. Da wirkt die Welt selber dann künstlich, um nicht zu sagen kunstgewerblich. Schön sind die Bilder, schön ist die Welt, die sie zeigen, das, was der Mensch aus ihr macht, gewisslich immer nicht. Bedenklich schon. Bedenkenswert in ihrer lichten Lohe. Lichterloh. "Wolfgang Folmer, Fotografie und Zeichnungen" Katalogtext von Franz Joseph van der Grinten, 1994 Der Arbeit Wolfgang Folmers scheinen die Kraft und die Fülle des Barocks eigen zu sein. Aber die Fülle des Barocks ist nichts Anderes als der leidenschaftliche Wunsch, der Wirklichkeit habhaft zu werden, und seine Kraft ist keine andere als die der Intensität dieses Strebens. Fülle ergibt sich aus der Erstreckung des Bewusstseins in alle Richtungen, und sie bedingt Brüche und Verwickeltheiten. Kraft ist die, die sich potenziert, indem sie sich erschöpft: der göttliche Raubbau, ein Austausch, alchemistisch quasi. De facto bewirkt er Reichtum. Dünnhäutig war das Barock, krisengeschüttelt, der Wunsch modifizierte die Wirklichkeit, und es war eher Melancholie, die sich in die Farben diesseitiger Festlichkeit kleidete, todumfangen das volle und ganze Leben, und der Tod der letzte Triumph, man bereitete ihn passend vor, und selbst die Askese war auf ihre Weise ausschweifend. Realitätsversessenheit aus Verunsicherung, Aneignungsgier aus dem Bewusstsein, nichts in Ewigkeit halten zu können, Akzeptanz der Vergänglichkeit als Billett fürs Überdauern, die Wirklichkeit so heiß ersehnt wie grübelnd in Frage gestellt. Kraft, die sich um sich selbst dreht, rhythmisch, wie es ihr sich zu gehören scheint. Vitalität und Melancholie stehen zueinander in einem intimeren Verhältnis als man vermuten möchte. Das Ganze ganz: es gibt sich nur im Teil, das man zu fassen vermag, und nur auf Zeit, wie man sich selbst bewegt in der steten Bewegung der Welt, der letztlich selbstgeschaffenen, um einen her. Ein dauerndes Schaffen mit sich wandelndem Bewusstsein, wechselnden Bedürfnissen, unvorhersehbaren Betroffenheiten. Empfangen und Senden in Permanenz. Das innere Auge, das Sinnesorgan, die Kamera; die Motivation, Hand und Gerät, der Hebel oder Knopf. Das Licht der Erkenntnis und das Licht der Lampen. Mit dem ersteren, aus dem Wissen, dass in der Dynamik des Seins nichts wirklich statischen Bestand haben kann, dass aber nichts, was war, wirklich aufhören kann, zu sein, vertieft sich Wolfgang Folmer in die Erscheinungen der Welt, und seinem Blick schieben sich die Gegebenheiten aus Raum und Zeit übereinander, die gewachsenen und die artifiziellen, die weit vergangenen und die gegenwärtigen, die denkend zu Form und Ausdruck gebrachten und die in Verfall und Flüchtigkeit sich auflösenden. Unersättlichkeit des Blicks, Schärfe der Durchleuchtung. Was in der Weite nicht fassbar wäre, schichtet sich transluzid in eine eigens sich auftuende Tiefe. Raum und Zeit aufgehoben in so etwas wie Palimpseste. Die Außenwelt wird zur Innenschau, das Bewusstsein ist ein Arsenal. All dies lässt Wolfgang Folmer vor allem graphisch geschehen: in Suiten von Photographien, im Übereinanderblenden von Dias, in der Offenheit von Wahl und Folge, in der Entbindung von den zielgerichteten Willensimpulsen. Vor allem im Zeichnen aber denn auch, mit Graphit oder mit Kohle, dicht meist nicht nur durch die Anreicherung der Schwärze, sondern vor allem und oft durch das Eintragen der einen Gegebenheit über die andere. Die Welt erfährt und behält Transparenz schon in der Sichtdurchlässigkeit des gewählten Papiers.Hier und heute ist das Abendland, aber es ist ein Ganzes in diesem seinem Zeit- und Raumkontinuum. Ein persönliches Ganzes, das Wolfgang Folmer aus Gewordenheit und Sein zu eigene. Dass all dies so kraftvoll lebenshaltig ist, ist seinem zeichnerischen Rang zu danken, der Disziplin, der Lust am Zeichnen, der inneren Notwendigkeit, es zu tun. Hinsichtlich des Eiskunstlaufens spricht er von der Richtungswahl durch Gewichtsverlagerung von einem Fuß auf den anderen. Sein Zeichnen ist körpergeboren, als geschähe es wirklich mit den Füßen, mit Füßen freilich, die in höchstem Maße verfeinert wären auf diese zeichnerische Handschrift hin. Palimpsest, Synthese: erfahrener Lebensraum; im Wortursprung fuhr man wirklich, um zu erfahren. Alles ist unsere Welt zugleich: der Strahlenglanz der Heiligen und das Leuchtbild auf dem Fernsehschirm, das Schwert und der Colt, der Ephebe und die Madonna, der Engel und das Flugzeug. Ausschnitte, Vergrößerung, Überlagerungen, Phasen, ein Prozess: definitiv zur Frucht gemacht ist Wolfgang Folmers Methode in denHolzschnitten und Radierungen. Die Holzschnitte erzielen ein dichtes Helldunkel, in dem alle Schattentiefe sich aufhebt in den Gegensatz von reinem Schwarz und reinem Weiß, nah und fern zugleich, aber nicht dazwischen. Er fügt sie aus Einzelbildern zusammen, ehe er sie schneidet, und indem er, was der umgebende Hintergrund des Blattes wäre, wegfallen lässt, gewinnt er ihnen eine körperhafte Einheit. Ist hier das dichte Dunkel der Homogenität des Bretts zu danken, so bei den Radierungen der Dichte von Nadelstrichen, die, kaum moduliert, von einheitlicher Stärke sind und, tief gegraben, der Dunkelheit den Vorrang geben. Zitate von Wirklichkeit, Zitate von Geschichten, Zitate von Wachstum und Dasein wie von Vergänglichkeit und Gedenken. Von, um es zum Schluss noch einmal zu sagen, barocker Üppigkeit, vital, aber tief verschattet, und selbst den flüchtigen Bezeugungen vom Fernsehschirm her ist in der handfest bleibenden Lockerung der Strichstruktur eine bannende Präsenz gegeben.Augustinus sagt: Die Vergangenheit ist nicht, und die Zukunft ist nicht, und die Gegenwart ereignet sich auf der Grenze zwischen beiden. Wolfgang Folmers Arbeit wird auf dieser Grenze geleistet. Es ist eine dynamische Grenze, ihre Balance hat sie aus den Reichen, die an ihr aufeinandertreffen als zwei Bewusstseinsebenen des Einen, das Alles ist. V. Ellwanger Kunstausstellung 2012 Katalogtext von Dr. Eva-Marina Froitzheim Wolfgang Folmer konfrontiert den Betrachter in seinen großen Holzschnitten mit Motiven, die in den Tiefen deutscher Volksromantik wurzeln. Nach und nach geben sich dem betrachtenden Auge ein Hirsch, ein Bullterrier, Schweine und Dackel, in den 70er Jahren der Lieblingshund aller Deutschen, zu erkennen. Folmer zitiert archetypische Bilder des Deutschen, die je nach Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht als Ausdruck gelebter Volkstümlichkeit und echter Gemütlichkeit geliebt oder gerade wegen dieser Konnotation strikt abgelehnt werden.Die Tiere sind gepaart mit niedlichen Puppen und Bären, deren sichtbar belassene Nähte sofort die verschämte Assoziation an aufzuschlitzendes Spielzeug wecken. Die märchenhaften Elemente, wie die als Bremer Stadtmusikanten auf einem Tisch aufgetürmten Tiere, sind in der Zusammenführung mit den anderen Gegenständen in den bizarren Szenarien auf ihren meist grausamen Kern, der den meisten Märchen innewohnt, zurückgeführt. Das bühnenhafte Geschehen kippt Folmer komplett in die Fläche. Tische, auf denen die Gegenstände häufig arrangiert werden, unterstreichen die Künstlichkeit der Situation und entlarven das Ganze als Konstruktion des Künstlers.Alles wird zusammengespannt in ein licht- und schattenloses Szenario, klaustrophobisch eingepfercht in mit Paneelen und Backsteinen abgeriegelten Räumen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Die groteske und bösartige Szene, die sich hart am Rande des Kitsches bewegt, wird von einer messerscharfen Linie zusammengehalten. Sie alleine grenzt die durchgängig schwarz gedruckten Flächen voneinander ab, bzw. verbindet sie miteinander.Auch wenn die einzelnen Gegenstände benennbar sind, müssen die Dinge nicht sein, was sie zu sein vorgeben. Umgekehrt stellt Folmer typische Klischees auf den Prüfstand. Das scheinbar klare und benennbare Bild der Wirklichkeit kippt in diesen Holzschnitten ins Absurde und verlangt vom Betrachter eine eigene Stellungnahme.Die Holzschnitte hat Folmer aus 8 mm dünnem Sperrholz herausgearbeitet. Das preiswerte und brüchige Material birgt das ständige Risiko, mit einem zu starken Schnitt die Platte zu zerschneiden - auch das ein Bild für die Fragilität der Weit und der Szenarien, die Folmer vorführt. Folmer nutzt die ganze malerische Bandbreite des modernen Holzschnittes und bezieht bewusst populäre Ausdrucksformen, wie z .B. aus dem Comic, mit ein. (E M.F) Mit Zwergen groß geworden Zu Wolfgang Folmers Arbeiten der neunziger Jahre Katalogtext von Beatrix Rey In Holunderbüschen, sagt man, wohnen Zwerge. Sie tummeln sich dort mit manch anderen märchenhaften Gestalten, sprechen zuweilen die Menschen an. Aber wie kommen die Zwerge von dort in jene Kaserne, die die Nazis bauten? Die Eberhard - Ludwig - Kaserne im Westen von Ludwigsburg liegt inmitten eines Industriegebietes, keine Holunderbüsche weit und breit. Auch sonst erinnert nichts an eine märchenhaft phantastische Welt. In der Kaserne befindet sich das Zollamt, die Hundestaffel der Polizei, die Kreisergänzungsbücherei und ein griechisches Lyzeum. Im Dachgeschoss der Kaserne richtet sich Wolfgang Folmer 1996 neben anderen Künstlern sein Atelier ein. Er legt Wasserleitungen, montiert Lichter, aber die Heizmöglichkeiten bleiben dürftig. Das kalte Dachgeschoss war einst nur für soldatische Leibesübungen gedacht. Die verbliebenen Piktogramme an den Wänden erinnern an einen Trimm - dich - Pfad. Aber Folmer hat anderes vor, zieht im Winter zwei Skianzüge übereinander und zeichnet mit laufender Nase. Der dritte Winter ist besonders kalt. Bisher hat Folmer vorgegebene Bildwelten umgepflügt und äußere Gegenständlichkeit beackert. In diesem Winter wendet er sich seiner inneren Gegenständlichkeit zu.Schwungvoll wagt er sich an große Formate: Kohlezeichnungen und bald auch Pastelle. Eine Fülle innerer Bilder treibt ihn. Bilder der Kindheit und Jugend mischen sich mit den Bildern der gegenwärtigen Kriegsschauplätze.Das Kind Wolfgang Folmer überragt manche Gartenzwerge seines Vaters nur um wenige Zentimeter. Aug in Auge steht er ihnen gegenüber. Die Zwergesaugen wachen über die Rosenzucht des Vaters. Allzeit wachsam beobachten sie das Kind. Diese Fernrohre des väterlichen Blickes rufen: "Berühre die Rosen nicht"! Vor den Dornen hätte das Kind keine Angst, aber vor den Augen des Zwerges fürchtet es sich. Der Wächter - Zwerg ist eine Kinderscheuche, die sehen, womöglich auch sprechen kann und vielleicht zum Verräter wird. Der Zwerg ist ein wenig kleiner als das Kind, aber dank seiner beobachtenden Augen mit einer immensen Macht ausgestattet, mit einem großen Geheimnis. Mit dem spielt man nicht. Zwerge wohnen natürlich vor allem im Märchen. Das Kind Wolfgang Folmer hört die Märchen gern von der Mutter, obwohl der Junge sich in dieser oft grausamen Märchenwelt nicht wohl fühlt. Für den Märchengarten in Saarbrücken wird er fein angezogen, wie zur Kirche. Der Knabe betritt den Garten mit dem feierlichen Ernst der festlichen Kleidung. Er schreitet durch die fremde aufgestellte Welt. Überlebensgroß schauen Schneewittchens Zwerge auf den kleinen Wolfgang herab. Nur über die Pilze kann er gerade noch hinwegsehen. Nichts darf er anfassen, nichts verändern. Er tastet sich mit den Augen durch die stille, bunte Figurenwelt. Sie ist voller Geheimnisse. Er sieht, fühlt und fürchtet, dass es mehr darüber zu wissen gibt, als er weiß. Von den Erwachsenen so seltsam ernst genommen gibtihm diese aufgestellte Zwergeswelt Rätsel auf.Mit seiner Kindheit lässt Folmer die Welt des Märchengartens sowie die feierliche Grausamkeit der Zwerge erst einmal hinter sich. Doch aufgestellte phantastische Welten gibt es auch für Erwachsene jede Menge - zumindest in Folmers Heimat. Er entdeckt diese Eigenart seiner saarländisch-lothringischen Wurzeln aus dem Abstand des Studienortes. In den Semesterferien kommt er und fängt sie mit dem Fotoapparat ein. Zunächst sind da die Sofas der Nachbarin "es Otto, Anna": dort türmen sich Teddys, Stofftiere, Puppen und Porzellanfiguren neben Sofakissen und dem in Samt gekleideten Telefon, verdeckt von Strohblumengestecken und dicht überhängt mit Puzzlespielen in Zierleisten gefasst. Eine barock wuchernde Fülle auf engstem Innen-Raum. Das Pendant im Außen-Raum spiegelt sich in der Verkaufsausstellung eines Baumarktes. Was dort an klassischen Formen, Säulen, Treppen, Becken und Figuren aus weißem Plastik angeboten wird, stellen sich die Leute in den Vorgarten. Das immer gleiche Formen-Repertoire variiert nur durch die Auswahl und die Anordnung zu neuen Vorgarten-Bildern: oft genug furchtbar unpassende, beziehungs- und seelenlose, zusammengestückelte Bilder. Folmer beschäftigt sich mit diesem versponnenen Alltags-Spleen seiner Heimat. Hier im Grenzland gibt es seltsame Überlagerungen, Anhäufungen, Fremdheiten der Dinge und Figuren. Er findet jede Menge versuchte Ordnungssysteme. Folmer entdeckt: man kann alles nehmen, es ist eine Fülle da, man kann alles umdeuten ineinander projizieren und beseelen. In der Zusammenstellung und Anordnung liegt die Aussage. Solches Denken zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, durch die verschiedensten Arbeitstechniken. In seiner Heimat prägte die Stahlindustrie das Bild. Die Förderanlagen der Gruben und die Hochöfen der Hütten wirken wie riesige, unheimliche Tiere, die auf dem Boden schnüffeln, abends umspannt von einem phantastisch roten Himmel, dem feurigen Wiederschein der Hochöfen. In der lothringischen Tellerlandschaft sitzen einzelne Baumgruppen, Haufendörfer oder Feldherrenhügel wie auf dem Präsentierteller. Diese Landschaft ist zur Aufstellung von Heeren - zum Kriegführen - bestens geeignet. Die endlosen Reihen aufgestellter Soldatenkreuze bei Verdun zeugen von jenem vernichtenden Höllenfeuer.Schon früh beschäftigt Folmer die Grausamkeit der Menschen im Krieg. Immer wieder sucht er das nahe seiner Heimat gelegene Verdun auf. Er besucht das Kriegsmuseum und verarbeitet später die dort entstandenen Fotos und Videos in seiner Kunst. Die Granaten aus den Vitrinen von Verdun tauchen mit den inneren Bildern des Künstlers auf großen Kohlezeichnungen auf: in der Eberhard - Ludwig - Kaserne, in jenem dritten kalten Winter. Sie treffen dort auf die Zwerge aus Folmers Kindheit und verbinden sich seltsam leicht mit diesen kleinen Ungeheuern und ihren rätselhaften Drohungen. Die Zwerge halten Einzug in Folmers Bilderwelt. Mit diesen Figuren findet er eine stille Sprache, die Ungeheuerlichkeiten der Erwachsenenwelt, die Grausamkeiten und die großen Rätsel unserer Zeit auszusprechen. In die Zwergwelt projiziert Folmer sein Weltverständnis,seine Versuchs - Anordnungen von Weltverständnis. Im bildnerischen Spiel mit den Zwergen, spielt er die Welt nach, um sie sich zu erklären, um sie zu begreifen: die gegenwärtigen Kriege vor dem Hintergrund der vergangenen.Mit Krieg hat sich auch der große lothringische Grafiker Jacques Callot auseinandergesetzt, im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts arbeitend. Auf seinen Zeichnungen drängen sich eine Fülle von Gegenständen und Figuren, eine Fülle, die wir bei Folmer eher auf vielen Blättern verteilt finden. Lothringisch-saarländische Verwandtschaft zwischen den beiden Grafikern findet sich insofern, da man einige von E.T.A. Hoffmanns Bemerkungen über Jacques Callot genauso gut auf Folmer anwenden kann: so attestiert der Dichter Callot "Zauber einer überregen Phantasie", wundert sich, dass ihm Callots "Gestalten, oft nur durch ein paar kühne Striche angedeutet, nicht aus dem Sinn" kämen und stellt fest, dass bei Callot unter dem "Schleier der Skurrilität geheime Andeutungen verborgen" lägen.(s. E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier)Ausgehend von den ersten Zwergbildern entstehen bei Folmer endlose Variationen und zusammenhängende Bildfolgen, indem er seine Kohlezeichnungen auf leere Blätter überträgt. Die Originalzeichnung lässt sich einfach auf das neue Blatt abreiben und findet sich dort als blasse Zeichnung wieder. Auf dieser Grundlage können die Motive nun verändert werden: Teile werden weggelassen, neue hinzugefügt. Bei dieser Kohle - Abklatsch - Technik entsteht das Bild aus dem Bild, welches aus einem wieder anderen Bild entstandenist usw. ...Aus der Fülle des Bildmaterials und der Bildmotive schöpfend gelingt es Folmer, der sich bisher hauptsächlich als Zeichner verstand, Themen farbig aufzugreifen und auszuarbeiten. Ungewöhnlich große Pastelle entstehen in Farben einer phantastischen Welt. Ein besonderes Braun kommt zum Einsatz: eine billige Pastellkreide aus tonartigem Material erschafft Bäume und Wälder, in denen längst nicht mehr nur Zwerge leben, sondern allerhand märchenhafte Wesen. Aus dem Holunderbusch werden Holderbäume, Holderwälder und daraus hölzernes Baumaterial, aus dem wieder neue Figuren gezimmert werden. Die Zwerge mutieren teils in Pinocchiofiguren, die mit ihren aufgesteckten langen Nasen hölzern durch die Bilder stolpern. Eine weibliche Variante kommt hinzu: die Holzstock-Baumfrau hat drei Brustpaare und teils eine Pinocchionase. In ihrerbreitbeinig sitzenden Haltung kippelt sie und findet auch mit ihren abgesägten Armen und Beinen keinen rechten Halt. Von den vorgefundenen, äußerlich aufgestellten Welten sucht Folmer den Weg zu seinen inneren ständig neu entstehenden Fantasiestücken. Weit davon entfernt, etablierte Einsichten und vorgefertigteIdeen in Zeichnungen zu illustrieren, zeichnet er Gedanken, Ideen, Eindrücke, die durch ihn hindurch gegangen sind und sich so verändert haben, phantastisch geworden sind und auftauchen, wenn ihre Zeit reif ist. Die von Folmer geschaffenen phantastischen Welten haben eine Kindheit, eine Heimat, Nachbarn und Vorfahren unddoch erschöpfen sie sich nicht in diesen. Der Sturm Lothar und Folmers Baumstämme Katalogtext von Beatrix Rey Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft wie ein Vers im Psalter,ist Ernst und Wucht und Ewigkeit. Rainer Maria Rilke* * aus: Buch der Bilder, II. Buch, 2. Teil: "Der Schauende" 2. Strophe Rhythmisch klangvoll fegt der Sturm hier die Zeilen entlang. Nur Rilkes Bild vom "Vers im Psalter" ist uns heute fremd. Gut 100 Jahre nach Niederschrift des Gedichtes erinnern wir uns kaum noch an biblische Zeiten, wenn wir eine Sturmlandschaft sehen. Längst wissen wir, dass unsere Stürme und Flutkatastrophen selbstverschuldet sind. Beim Gestalten und Umgestalten der Natur arbeitet der alttestamentliche Psalter-Gott nicht mehr alleine. Wir haben ihm einen Teil seiner Arbeit abgenommen. Die Wetterkapriolen häufen sich. Sie stellen viele Sicherheiten in Frage. Der Wald und unsere Zeit wird umgestaltet. 2001 gestaltet der Sturm Lothar die deutschen Wälder um. Überall ausgestreute Mikadospiele: auch die kräftigen Stämme nicht nur die kranken liegen da. Der Name Lothar ist mittelhochdeutsch und heißt frei übersetzt: "lautes Heer". Und tatsächlich sehen die Wälder wie Schlachtfelder aus, über die ein lautes Heer dröhnte und kräftige Krieger hinter sich liegen ließ. Auch am Neckarufer bei Marbach liegen einige schwere Baumstämme auf den Wiesen, als Folmer dorthin zum Bildhauersymposium eingeladen wird. Die herumliegenden Baumstämme sprechen ihn an, mit ihnen will er arbeiten, sie gestalten, er weiß noch nicht wie. Zeichne einen Baum, zeichne einen Menschen. Kaum ausgesprochen entstehen Bilder in unseren Köpfen. Aber die Bäume und die Menschen stehen, in unseren Köpfen und auf unseren Bildern stehen sie. Wer beschäftigt sich schon mit den Liegenden? Manchmal aber liegen sie auch, die Menschen und die Bäume: bei Krankheit, Tod und Geburt. Dann werden sie umgestaltet. Menschen liegen auch beim Lieben. Der Liebes-Sturm, ein Umgestalter. In seiner Kindheit war Folmer viel mit dem Beil unterwegs. Er streunte mit seinen Geschwistern und anderen Kindern am Grenzfluss zu Frankreich herum und fällte junge Akazien. Die Kinder bauten daraus Baumhäuser und wehrhafte Burgen. Sie schätzten den geraden Wuchs der Akazien, die astlosen Stämme waren gutes Baumaterial. Von zu Hause kannte Folmer nichts anderes, sein Elternhaus wurde jahrelang umgebaut, war immer eine Baustelle. Bäume, ein gutes Baumaterial. Ja, aber nicht nur das. Folmer hatte durchaus auch Sinn für die lebenden Bäume. Im Wald stellte er sich gerne nahe an sie heran, spürte mit der Hand ihre Rinde oder umarmte sie, um eine Weile die aufsteigende Lebenskraft zu fühlen. Er sah auch kranke Bäume mit freigelegten Rinden und entdeckte die Fraßspuren der Larven von Borkenkäfern. Diese Futterwege der kleinen Tiere faszinierten Folmer als Zeichnungen. Später fotografierte er sie, machte Frottagen und Drucke davon. Solche Borkenkäfer - Zeichnungen sieht Folmer nun auch in Marbach auf den liegenden Stämmen. Und so fängt es an. Folmer entschließt sich, diesmal selbst auf den Stämmen zu zeichnen. Dazu muss er zunächst die Rinde entfernen, um dahin zu kommen, wo es auch den Larven am besten gefällt, wo der Stamm schön weich und glatt ist. Folmer stößt, hebelt und zieht die Rinde weg. Zuerst legt er nur kleine Stellen frei und schneidet die ersten Zeichnungen in den Stamm. Bald geht ihm der Platz aus und er zieht größere Streifen Rinde ab. Die kahlen Stämme und daneben die Rinde: das liegt jetzt da wie geschälte Früchte auf einem Küchentisch. Das Messer gleitet weiter dahin, gestaltet immer neue Zeichnungen. Ein gefundenes Fressen, so viel Platz für Holzschnitte. Die Bildideen fließen aus ihm heraus, als habe er einen Bleistift in der Hand. Dann will Folmer die Holzschnitte abdrucken, stößt auf Schwierigkeiten, denn die gewölbte, bucklige Oberfläche lässt sich nicht so einfach abwalzen. Das Papier reißt. Er gibt nicht auf, entwickelt neue Techniken mit speziellem angefeuchtetem Papier. Es klappt. Die Holzschnitte sind als Drucke gesichert. Da zögert Folmer nicht, die Zeichnungen vom Stamm zu schälen. Der Stamm wird um einen Jahresring dünner und Folmer hat wieder Platz für neue Holzschnitte. Der Vorgang wird sich noch ein paar Mal wiederholen: mehr und mehr Holzschnitte auf immer dünner werdenden Stämmen.Der Umgang mit Baumstämmen bekommt seit Marbach einen großen Stellenwert in Folmers Werk. Schon zuvor entwickelte er eine Vorliebe zur Projektarbeit. Eine Einteilung der künstlerischen Schaffensphasen nach Orten war bei Folmer seit jeher sinnfällig. Immer wieder arbeitete er an unterschiedlichen Orten intensiv bis exzessiv ein paar Wochen oder Monate lang. Folmer lässt gerne zu, dass seine Arbeit von äußeren Gegebenheiten beeinflusst wird. Seine weiteren Baumarbeiten sind immer Vor - Ort - Projekte. Betrachter von Folmers Baumstämmen fragen immer wieder, ob diese nicht später aufgestellt würden. Aber nein, sie bleiben liegen. Der Künstler mag den Widerstand und die Statik des liegenden Kolosses. Gleichwertig liegen die Motive nebeneinander, sie können von links nach rechts und umgekehrt gelesen werden. Man kann aber auch unvermittelt über den Stamm steigen und auf der anderen Seite weiterlesen. Dem Liegenden nähert man sich anders: man lässt sich anstecken von der Ruhe, man sucht keine Konfrontation, keine Konkurrenz wie zu etwas Gegenüberstehendem. Behutsam und fragend nähert man sich Liegenden, wie man an das Bett eines Menschen tritt, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Man bückt sich vielleicht, aber nicht untertänig, sondern eher forschenden Sinnes. Ein Gespür entsteht für die unausgesprochenen und die unaussprechbaren Dinge. Kein Baum wurde je für Folmer gefällt. Er bekam die vom Sturm gefällten, die vom Förster aussortierten, die unbrauchbaren, die vom Borkenkäfer zerfressenen Bäume. Oder er bekam den Baum, der die Grundfesten eines Hauses bedrohte und schließlich weichen musste. Keine Siegerbäume also. Folmer erhebt ihr Liegen auf kleine Pflöcke. Er begleitet ihr Sterben, er entkleidet sie, befreit sie von der Rinde, er beschleunigt ihre Auflösung und gibt ihnen doch etwas Zeit und Beachtung zurück. Folmer gestaltet das, was er vorfindet. Er geht auf Angebote ein. Dass es gerade aussortierte Baumstämme sind, dem misst er keine übermäßige Bedeutung zu. Er sieht sich weder als Umweltapostel noch als Samariter oder Weltverbesserer.Und doch ist es kein Zufall, dass Folmer ausgerechnet nach diesen vom Sturm bezwungenen Bäumen greift. Als aufmerksamer Beobachter des Weltgeschehens ist er betroffen von den verschiedensten stürmischen und katastrophalen Veränderungen, dem Verlust von Sicherheiten und unberührter Natur. Der Bestand der Natur ist heute ebenso gefährdet wie persönliche Anschaffungen: ob eine Flutkatastrophe das neu gebaute Haus zerstört oder ein Computervirus das Betriebssystem angreift. Wer neue Krankheitsviren besiegen will, jagt einem Phantom nach, da sie sich verändern, ihre Formen, ihr Verhalten und ihre Angriffstechniken. Ähnlich aussichtslos scheint der Kampf gegen Terroristen. Die Bombe kann überall losgehen, jeder kann betroffen sein. Rückzug ist kaum möglich. Elfenbeintürme gibt es nicht mehr. Folmers Betroffenheit spiegelt sich in seiner Bilderwelt. Figuren hängen kopfüber an dünnen Fäden. Die Sonne und ein Baum sind notdürftig aus Dachlatten gezimmert. Auf einem Auto reitet ein Dreirad. Die langen Ohren des Hasen schweben abgesägt über ihm. Der Hund hat sich das Maul mit hot dog vollgestopft. Auf dem Tisch brennt eine Grasnarbe. Skurrile Traumpoesie, in der das Heitere dem Alpdruck Parole bieten kann und das Komische dem Tragischen den Wind aus den Segeln nimmtStürme des Unbewussten drängen in Folmers Bilder. Sie rütteln an Sehgewohnheiten und scheinbar fest Gefügtem. Verwehte Teile und Figuren finden sich zu neuen Ordnungen, denen Folmer eine eigene Gesetzmäßigkeit gibt. Stürme von Ideen jagen durch seine Hand auf die Stämme: eine sprudelnde Fantasie, die sich einer kindlichenDarstellungsweise bedient. Mit holzschnittartiger Vereinfachung sucht er das Lebensgefühl in einer immer komplizierter werdenden Welt zu fassen. Primitive Figuren werden in komplexe Zusammenhänge gestellt. Die Wiederkehr der mutierten Figuren, die Mühelosigkeit und Leichtigkeit der Bildfindungen entpuppt sich als Virtuosität. Das Leichte der Bilderwelt findet sich auf der Schwere der Stämme. Das Leichte ist schwer. ARS SOLVENDI - die Kunst des Loslassens Eröffnungsrede von Helmut John Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, darin du mich so eilen siehst. Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde, ich bin nur einer meiner vielen Munde und jener, welcher sich am frühsten schließt. Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen, die sich nur schlecht aneinander gewöhnen: denn der Ton Tod will sich erhöhn Aber im dunklen Intervall versöhnen, sich beide zitternd. Und das Lied bleibt schön. Rainer Maria Rilke* *aus: Das Stundenbuch, I. Buch: Das Buch vom mönchischen Leben Ich hatte das ergreifende Erlebnis, den Kapellenraum leer zu sehen: nur mit dem frisch geschälten Stamm, der in der Dämmerung regelrecht leuchtete mit einer unglaublichen Präsenz und Strahlkraft. Das Schlagwort "Weniger ist mehr" traf hier nicht tief genug, das Wenige war alles!Wenn Wolfgang Folmer diesen Stamm bearbeitet, wird er sich am Ende daran messen müssen, was war.Darum geht es hier: die Energie dieses gestürzten Kolosses aufzunehmen, sie weiterzutragen und umzuwandeln in etwas Neues. Das geschieht in den folgenden 2 Wochen.Und heute? Was wird Ihnen heute geboten? Sie sollen auf ihre Weise einen Nullpunkt erleben. Wir bieten Ihnen das Unerwartete, das Ungewohnte.Wir wissen selbst nicht, was auf uns zukommt. Wir vertrauen einem Künstler.Und wir nehmen eine Herausforderung an.Das Ungewohnte ist: Sie erwarten eine Vernissage und finden keine Bildwerke. Der Künstler früher hatte sein fertiges Bild mit einem Schlussfirnis, einem vernis moux überzogen, dann wurde das Ateliergeheimnis der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir haben hier nichts Fertiges, hier wird erst angefangen. In unserer Einladung steht nicht Vernissage, sondern ausdrücklich: Eröffnung! Eröffnet wird ein Kunstprojekt.Wir haben es "ars solvendi" genannt. Das darf ich erläutern.Die Hospizgruppe Weil der Stadt feiert heuer ihr 10-jähriges Bestehen. Die Leiterinnen Frau Dietz und jetzt Frau Bartl kamen auf das Kunstforum zu mit der Frage, ob Kunst etwas zu sagen habe - zum Thema Tod, terben...Das ist eine Herausforderung! - was geht einem Künstler oder Kunsthistorikeralles durch den Kopf bei diesem Thema?Alle Anfänge von Architektur - und man spricht von Architektur als der Mutter aller Künste - sind im Totenkult zu finden.Christos M. Joachimides schreibt im Katalog zur Ausstellung "Afrika" (Berlin, 1998): "Die Kunst ... hat über ihre gesamte Geschichte hinweg 2 zentrale Themen, Tod und Fruchtbarkeit". Er bezieht sich auf Afrika und einen Zeitraum von 5000 Jahren, aber seine Aussage kann mit Abstrichen auf die gesamte Kunstgeschichte angewendet werden.In der römischen Antike sollten Mumienporträts aus Wachs, erstaunlich realistisch, den Toten helfen, im Jenseits ihre Gestalt wiederzufinden. Das Mittelalter und seine Maler sahen den Tod als Erlösung vom irdischen Leben und als Wegbereiter zu ewiger Glückseligkeit. Und sogar die so sehr dem Irdischen zugewandte Malerei des Barock vergaß nicht die Endlichkeit des süßen Lebens und schmuggelte selbst ins saftigste Stillleben immer eine kleine symbolische Anspielung wie die gerade verlöschende Kerze, ein umgefallenes Weinglas - alles im Sinne eines "memento mori", denke an den Tod!"Memento mori", das war dann auch - drastisch und daher unangemessen - zunächst der Arbeitstitel der vom Kunstforum ins Auge gefassten Themenausstellung. Künstler sollten angeschrieben werden, die ihre Aussagen zum Thema umsetzen würden. Unsere letzte Themenausstellung "Masken" hätte man komplett übernehmen können, dazu die durchgestrichenen Köpfe von Arnulf Rainer, eine schwarze Tafel von Felix Schlenker, ausgedrückte Tuben-Gestalten von Jürgen Brodwolf ... in diesem Zusammenhang eher peinlich. Die angefragten Künstler hielten sich Gott sei Dank bedeckt, bis auf den einen, und der hatte ein Gesamtkonzept. Dieses ungewöhnliche Konzept und die ungewöhnliche Person, die dahinter steht,gewann unser Vertrauen. Vor einem Jahr habe ich Wolfgang Folmer kennen gelernt. Eher zufällig kam ich von einem benachbarten Atelier eines anderen Künstlers auch in seine Räume. Er war dabei, seine Bilder per Computer zu archivieren: große Pastellzeichnungen. - Ich war sehr irritiert und versuchte sie mir einzuordnen: in der Farbe poppig-frech bis sublimverhalten, von der Machart her ein Mix von Andy Duck bis Donald Warhol ( ... Katalogisierungssucht) mit Visionen zwischen Marc Ernst und Max Chagall - eine sehr eigene Mischung! Das Eigenartigste aber war die Fülle, die unbeschreibliche Vielzahl der Arbeiten, wo einzelne Bilder sich mir übereinander schoben und zu einem Ganzen wurden.Ein ähnlicher Eindruck von Fülle bei meiner 2. Begegnung mit Wolfgang Folmer: beim Kunstverein Schwäbisch-Hall, diesmal an einem heißen Sommertag. Die Vernissage der Doppelausstellung mit Rolf Nikel beschränkte sich auf je 4 Bilder in der Eingangshalle, während der 4 Wochen "Ausstellung" aber füllte sich daneben und darüber der riesige Fachwerkbau über alle Stockwerke bis unter das Dach mit Kohlezeichnungen, die vor Ort angefertigt wurden. Imponierend wieder die Folge: Bild zu Bild sich weiterentwickelnd. Erstaunlich auch das Bemühen von Wolfgang, seine angelernte Kunstfertigkeit bewusst abzustreifen mittels z.T. drolliger Versuche: mit der ungeschickteren linken Hand zeichnen oder den Entstehungsprozess nicht direkt auf dem Papier, sondern via Kamera auf dem Monitor verfolgen, manchmal sogar blind zeichnen. Kunstfertigkeit, einmal Gelerntes, Gefundenes soll nicht neue Impulse in starre Formen drängen dürfen.Diese distanzierte Haltung zu starren Ergebnissen zeichnet schon seine frühen Arbeiten aus ...(Früh muss man dabei relativ sehen: Wolfgang Folmer kam erst über Umwege zur Kunst. In seiner Vita auf der Einladungskarte übergeht er seinen ersten Beruf als Wagenmeister, den er nach langer Ausbildung nur kurze Zeit ausübte. Er gab eine Beamtenlaufbahn bei der Bundesbahn auf, mit 25 Jahren begann er seine künstlerische Ausbildung, war schließlich Meisterschüler von Rudolf Schoofs an der Kunstakademie in Stuttgart.) In seinem Werkbüchlein "Grafische Entwicklungsarbeit" von 1994 zeigt er Zeichnungen, die spielerisch offen angelegt sind: ein fester Wissensschatz der Kulturgeschichte wird bruchstückhaft dargestellt, kombiniert oder konterkariert mit Hightech-Versatzstücken. Im Vorwort zu diesem Werkbuch ergründet Franz-Josef van der Grinten die Beweggründe zur Arbeitsweise Folmers: " ...aus dem Wissen, dass in der Dynamik des Seins nichts wirklich statischen Bestand haben kann, dass aber nichts, was war, wirklich aufhören kann zu sein, vertieft sich Wolfgang Folmer in die Erscheinungen der Welt ...".... Wissen, ... dass nichts ... Bestand haben ... nichts ... aufhören kann.Da sind wir wieder bei der Herausforderung am Anfang, beim Thema Leben und Tod. Wenn ich weiß, dass Energie nicht verloren gehen kann, fällt es mir leicht, loszulassen, im richtigen Augenblick. ARS SOLVENDI - die Kunst des Loslassens - besteht in dem Gespür und dem Mut, wenn genügend Kraft aufgebaut oder verbraucht ist, für einen neuen Schritt bereit zu sein.Ich bewundere den Schritt von Wolfgang, den alten Beruf aufgegeben zu haben und einer Berufung nachgegangen zu sein. Es ist beruhigend, zu erfahren, dass der Tod ein Tor für das nächste große Abenteuer sein kann. Und ich bin neugierig, wie sich dieser Ort verwandeln wird. Vom bearbeiteten Stamm will Wolfgang Folmer Holzdrucke machen, die aber nicht zur Vervielfältigung gedacht sind, sondern als Unikate. Wolfgang Folmer wird nach jedem Druck den Stamm wieder glätten, sich vom Erarbeiteten lösen, neu beginnen. Das Alte wird im Neuen nachschwingen, das Neue wird die Energie des Alten auf seine Weise weitertragen.Wolfgang wünsche ich gute Arbeit in konzentrierter Atmosphäre. Den Besuchern danke ich für ihre Aufmerksamkeit und ihr Vertrauen in diese Arbeit. Wie Papier zu Holz wird - oder: Warum Pinocchio eine Marionette bleiben darf Bleistift- und Buntstiftzeichnunge Katalogtext von Dorothee Götte-Heiss Es beginnt wie fast immer mit Besessenheit, mit der im Kopf laut hämmernden Idee, sich selbst ein Gegenüber zu schaffen. In Ton geknetet, in Verse gepackt, aus Steinblöcken gehauen, hastig aufs Papier gebannt: die Kreatur ist fleischgewordene Idee, mal flüchtig und verwerflich, mal vital und selbstbestimmend. Die Kreatur namens Pinocchio, das gewünschte und selbstgeschnitzte Kind aus Holz, gerät, naiven ungetrübten Sinnes und fern vom Schöpfervater, in eine gefährliche Welt voller Schlitzohren und Verlockungen. Unbegreiflich bleiben seinem Holzkopf die Regeln und Gesetze. Er muss sich - glücklicherweise von guten Mächten wunderbar begleitet - durch einen abenteuerlichen Dschungel von Anfechtungen und Bewährungsproben schlagen, um am Ende - wie jeder echte Held - als Lohn für wahre moralische Läuterung das kostbarste Geschenk zu erhalten: die Verwandlung in einen Menschen aus Fleisch und Blut.Wolfgang Folmer alias Meister Gepetto lässt die Puppen tanzen, fängt sie mit dem Stift fast mit einer einzigen sicheren Umrisslinie auf Papier ein, dreht alle beweglichen Glieder, füllt sie mit einer hölzernen Bleistiftmaserung, stellt sie in einer bizarr unzusammenhängenden Welt der Dinge auf den Kopf, verwandelt die Holzfigur in einen leibhaftigen Menschen - und wieder zurück.Die dem Betrachter aus Kinderbuchtagen vertraute und daher nicht ganz zufällig fokussierte Marionette führt allerdings zwischen den spukhaften rumpflosen Torsi, den auf Umrisslinien reduzierten Aktskizzen, den unmaßstäblich und bedrohlich vergrößerten Haustieren kein formales oder inhaltliches Heldenleben.Beinahe zwanghaft vertreiben Bleistift (und gegebenenfalls Buntstift bzw. Ölkreide) jeglichen szenischen Plauderton aus den Einzelblättern, indem Figuren sich rein zufällig in formsinnigen Linien überschneiden oder tangieren, nicht aber sich in Wirklichkeit berühren oder miteinander kommunizieren.Auf dem linken Bild der gegenüberliegenden Seite beispielsweise werden zwei eigenständige, in anderen Blättern variierte Figuren- bzw. Gegenstandsarrangements wie Transparentpapiere übereinander geschoben und so zwei zeichnerische, nicht narrative (!) Handlungsebenen miteinander fusioniert: Auf dem klar zentralperspektivisch konstruierten, farbig schachbrettartig gekachelten Raum wirken die papierweißen, nicht spezifizierbaren "Untiere" und Architekturbruchstücke wie aufgeklebt. Auf dieses Bild wird eine transparente Folie aufgelegt und dabei die darauf gezeichneten Figuren durch die erste Zeichenebene per Zufallsprinzip mit Farbe gefüllt. Auf den Kopf gestellt und schon dadurch jeglichem bildlichem Erzählzusammenhang entzogen, erscheinen Zeichnungen von Jungen und marionettenhaften Puppen, die hier (mutwillig) als Einzelstadien aus der Metamorphose Pinocchios gelesen werden: Pinocchio als ausdruckslose Holzpuppe in reduzierter Profilzeichnung, ein blickloser Junge aus "Fleisch und Blut" mit hängenden Schultern und ebenfalls im Profil, eine mit Pinocchioattributen gekennzeichnete hölzerne Gliederpuppe, den Mund geöffnet, schreiend (?), wie im freien Fall die Arme geöffnet, die mehrgliedrigen Beine und Füße schräg nach oben zeigend, ohne Stand - wobei natürlich genau genommen jeglicher Handlungs- oder Bewegungsimpuls zwangsläufig vom Schauenden wild hinzuphantasiert wird. Ist der ebenfalls offensichtlich aus Fleisch und Blut bestehende Junge mit Zipfelmütze eine Illustration des verwandelten Pinocchios? Berechtigte Zweifel scheinen erwünscht zu sein, denn kaum hat der Vollständigkeitsmechanismus des menschlichen Verstandes einen Zusammenhang erpuzzelt, da bringt eine bewusst naiv gezeichnete weibliche Zwergenfigur mit überproportional großem Kopf und taillelos quadratischem Rumpf, offensichtlich einer völlig anderen Stilkategorie angehörend, Unruhe ins vermeintliche Ensemble.Der Baumstamm, dieser ungewöhnliche Druckstock, in den ähnliche Zeichnungen eingeritzt, geschnitten werden, um dann im letzten Schaffensstadium als Druck wieder auf Papier abgebildet zu werden, ist in den Zeichnungen stets mitgedacht, wobei diese nichts an künstlerischer Eigenständigkeit einbüßen. Im Gegenteil: Das beständige Thematisieren und Spielen mit den Materialien des künstlerischen Prozesses eröffnet schier unendliche Welten der zeichnerischen Virtuosität, in denen entstofflichte oder mit artfremder Materie gefüllte Dinge, Figuren und Lebewesen für den Betrachter zu ständig wechselnden, teils befremdlichen, teils witzigen Vexierbildern werden.Figürliche Darstellung wie Akte, Tiere, Puppen oder disproportionierte Phantasiegestalten zeichnet Folmer mit wenigen Linien, ohne illusionistische Schraffur (keine Plastizität, Haarschopflinien ohne Andeutung der haarigen Substanz, Augen ohne Zeichnung der Iris und/oder Pupille usw.), enthebt sie so ihrer eigentlichen Materie und verleiht ihnen teilweise ein neues hölzernes Innenleben, indem die Bleistift- und Buntstiftzeichnungen Holzmaserung, gegebenfalls zusätzlich durch monochrome Farbe unterstützt, als alleinige Binnenzeichnung fungiert. Daneben findensich aber auch viele "materialgerechte" Holzobjekte wie Stühle, Hocker, Kommoden oder Bäume - letzterer allerdings durchweg blattlos, comichaft oder als Klötzchentanne aus dem Holzbaukasten. Ihre beständige beruhigende Gegenwart schafft eine vordergründige Plausibilität für das wahnwitzige Verwandlungsspiel, das Folmer mit den Elementen treibt: Wolkenstücke, geflügelte Wesen, Attribute des Elements Luft, schematische Wellenmäander und Ozeandampfer aus der Welt des Wassers und spitzige, grob "geschnitzte" Wiesenstücke und gezackte Schlangen, auf das Element Erde verweisend. Leicht ist man versucht, sich über allen artistischen Bleistiftspuk hinwegzusetzen, sich nur mit dem bildungsbürgerlich einleuchtenden Etikett des Surrealismus zu bewaffnen und dabei das Wesentliche zu übersehen: dass das Primat des Holzes die Regeln diktiert und den zaubernden Zeichenstift in die Schranken weist.Der auf dem Einzelblatt vermeintlich ungefiltert sprudelnde zeichnerische Bewusstseinsstrom erweist sich in der Zusammenschau mit Zeichnungen ähnlichen Figuren- und Formenvokabulars und erst recht verglichen mit den "Erzählfriesen" der Baumstämme als hart erarbeitete und sorgfältig konstruierte Traumwelt voller formaler Ironie und teils abgründiger, teils paradoxer Mehrdeutigkeit. Selbst die Schatten führen hier ein Eigenleben, überschneiden bzw. durchdringen sich und wachsen so zu undefinierbaren zweidimensionalen Gebilden zusammen - eine Art "Rorschachakrobatik", die zum Weiterphantasieren nötigt.Der Gleichwertung der Dimensionen entspricht die Gleichzeitigkeit, zuweilen auch Widersprüchlichkeit verschiedener Perspektiven in ein und demselben Bildzusammenhang: Auf einem aufsichtig dargestellten blauen Tisch, der in dem gekachelten Raum mit der rosafarbenen Holzwand offensichtlich keinen realen Stand findet, kopulieren fröhlich zwei streng ins Profil gedrehte, rote, holzgemaserte Hunde, während mit wenigen Strichen angedeutete fleischfarbene Frauenakte ebenfalls ohne Bodenhaftung fast tänzerisch sich in unterschiedliche Richtungen drehen, ohne in Blick- oder sonstigen Interaktionszusammenhang zu treten. Geerdet hingegen und auf dem Schachbrettboden unter dem Tisch zwanglos verteilt sind nostalgische Spielzeugfetische wie Kreisel, Flugzeug, Würfel, Becken schlagender, mechanischer Affe und Bauklötzchen. Diesem auf vielen Zeichnungen immer wieder neu variierten und arrangierten Arsenal perspektivisch zugeordnet erscheint ein ebenfalls mehrfach zitierter unterleibsloser Männertorso im Profil, der wie das Hundepaar und ein vergrößerter Spielzeugtannenbaum auf einem rosa Stuhl durch eine farbig unterlegte Holzmaserung ausgefüllt ist.Dinge und Figuren, oft mit der Ästhetik der Kinderbuchillustration kokettierend oder mit kunsthistorischen Versatzstücken wie Architekturstücken à la De Chirico oder Picassohafter Simplizität jonglierend, tauchen in immer wieder neuen Kontexten und Kombinationen in den Zeichnungen auf und führen so ein beinahe protagonistenhaftes Eigenleben. Der Betrachter wird zwar seinem natürlichen Zwang narrative Stränge daraus zu flechten bewusst überlassen, er gerät aber buchstäblich auf den Holzweg, wenn er versucht, eine Art erzählerische Kohärenz aufzudecken und damit dem Künstler womöglich auf die Schliche zu kommen. Würde auf den Zeichnungen wirklich im ureigensten Sinne erzählt, dann bliebe das Figurenzitat ohne künstlerische Sublimation und wollte damit nichts anderes sein als das Original: pure, wenn auch gut gezeichnete, Illustration.Pinocchio wird auch als Fleischgewordener seine spitze, lange Nase nicht los. Seine moralische Läuterung wird uns erlassen und das Fatum, in der Welt der Menschen nur als Mensch Existenz berechtigt zu sein wird ebenso ad absurdum geführt wie die Herkunft der geflügelten, entmenschlichten oder erigierten Wesen verdächtig, ungeklärt und spannend bleibt.