Beatrix Rey

  Der Sturm Lothar und Folmers Baumstämme

Beatrix Rey

Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft wie ein Vers im Psalter, ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Rainer Maria Rilke*

* aus: Buch der Bilder, II. Buch, 2. Teil: "Der Schauende" 2. Strophe

Rhythmisch klangvoll fegt der Sturm hier die Zeilen entlang. Nur Rilkes Bild vom "Vers im Psalter" ist uns heute fremd. Gut 100 Jahre nach Niederschrift des Gedichtes erinnern wir uns kaum noch an biblische Zeiten, wenn wir eine Sturmlandschaft sehen. Längst wissen wir, dass unsere Stürme und Flutkatastrophen selbstverschuldet sind. Beim Gestalten und Umgestalten der Natur arbeitet der alttestamentliche Psalter-Gott nicht mehr alleine. Wir haben ihm einen Teil seiner Arbeit abgenommen. Die Wetterkapriolen häufen sich. Sie stellen viele Sicherheiten in Frage. Der Wald und unsere Zeit wird umgestaltet. 2001 gestaltet der Sturm Lothar die deutschen Wälder um. Überall ausgestreute Mikadospiele: auch die kräftigen Stämme nicht nur die kranken liegen da. Der Name Lothar ist mittelhochdeutsch und heißt frei übersetzt: "lautes Heer". Und tatsächlich sehen die Wälder wie Schlachtfelder aus, über die ein lautes Heer dröhnte und kräftige Krieger hinter sich liegen ließ. Auch am Neckarufer bei Marbach liegen einige schwere Baumstämme auf den Wiesen, als Folmer dorthin zum Bildhauersymposium eingeladen wird. Die herumliegenden Baumstämme sprechen ihn an, mit ihnen will er arbeiten, sie gestalten, er weiß noch nicht wie. Zeichne einen Baum, zeichne einen Menschen. Kaum ausgesprochen entstehen Bilder in unseren Köpfen. Aber die Bäume und die Menschen stehen, in unseren Köpfen und auf unseren Bildern stehen sie. Wer beschäftigt sich schon mit den Liegenden? Manchmal aber liegen sie auch, die Menschen und die Bäume: bei Krankheit, Tod und Geburt. Dann werden sie umgestaltet. Menschen liegen auch beim Lieben. Der Liebes-Sturm, ein Umgestalter. In seiner Kindheit war Folmer viel mit dem Beil unterwegs. Er streunte mit seinen Geschwistern und anderen Kindern am Grenzfluss zu Frankreich herum und fällte junge Akazien. Die Kinder bauten daraus Baumhäuser und wehrhafte Burgen. Sie schätzten den geraden Wuchs der Akazien, die astlosen Stämme waren gutes Baumaterial. Von zu Hause kannte Folmer nichts anderes, sein Elternhaus wurde jahrelang umgebaut, war immer eine Baustelle. Bäume, ein gutes Baumaterial. Ja, aber nicht nur das. Folmer hatte durchaus auch Sinn für die lebenden Bäume. Im Wald stellte er sich gerne nahe an sie heran, spürte mit der Hand ihre Rinde oder umarmte sie, um eine Weile die aufsteigende Lebenskraft zu fühlen. Er sah auch kranke Bäume mit freigelegten Rinden und entdeckte die Fraßspuren der Larven von Borkenkäfern. Diese Futterwege der kleinen Tiere faszinierten Folmer als Zeichnungen. Später fotografierte er sie, machte Frottagen und Drucke davon. Solche Borkenkäfer - Zeichnungen sieht Folmer nun auch in Marbach auf den liegenden Stämmen. Und so fängt es an. Folmer entschließt sich, diesmal selbst auf den Stämmen zu zeichnen. Dazu muss er zunächst die Rinde entfernen, um dahin zu kommen, wo es auch den Larven am besten gefällt, wo der Stamm schön weich und glatt ist. Folmer stößt, hebelt und zieht die Rinde weg. Zuerst legt er nur kleine Stellen frei und schneidet die ersten Zeichnungen in den Stamm. Bald geht ihm der Platz aus und er zieht größere Streifen Rinde ab. Die kahlen Stämme und daneben die Rinde: das liegt jetzt da wie geschälte Früchte auf einem Küchentisch. Das Messer gleitet weiter dahin, gestaltet immer neue Zeichnungen. Ein gefundenes Fressen, so viel Platz für Holzschnitte. Die Bildideen fließen aus ihm heraus, als habe er einen Bleistift in der Hand. Dann will Folmer die Holzschnitte abdrucken, stößt auf Schwierigkeiten, denn die gewölbte, bucklige Oberfläche lässt sich nicht so einfach abwalzen. Das Papier reißt. Er gibt nicht auf, entwickelt neue Techniken mit speziellem angefeuchtetem Papier. Es klappt. Die Holzschnitte sind als Drucke gesichert. Da zögert Folmer nicht, die Zeichnungen vom Stamm zu schälen. Der Stamm wird um einen Jahresring dünner und Folmer hat wieder Platz für neue Holzschnitte. Der Vorgang wird sich noch ein paar Mal wiederholen: mehr und mehr Holzschnitte auf immer dünner werdenden Stämmen. Der Umgang mit Baumstämmen bekommt seit Marbach einen großen Stellenwert in Folmers Werk. Schon zuvor entwickelte er eine Vorliebe zur Projektarbeit. Eine Einteilung der künstlerischen Schaffensphasen nach Orten war bei Folmer seit jeher sinnfällig. Immer wieder arbeitete er an unterschiedlichen Orten intensiv bis exzessiv ein paar Wochen oder Monate lang. Folmer lässt gerne zu, dass seine Arbeit von äußeren Gegebenheiten beeinflusst wird. Seine weiteren Baumarbeiten sind immer Vor - Ort - Projekte. Betrachter von Folmers Baumstämmen fragen immer wieder, ob diese nicht später aufgestellt würden. Aber nein, sie bleiben liegen. Der Künstler mag den Widerstand und die Statik des liegenden Kolosses. Gleichwertig liegen die Motive nebeneinander, sie können von links nach rechts und umgekehrt gelesen werden. Man kann aber auch unvermittelt über den Stamm steigen und auf der anderen Seite weiterlesen. Dem Liegenden nähert man sich anders: man lässt sich anstecken von der Ruhe, man sucht keine Konfrontation, keine Konkurrenz wie zu etwas Gegenüberstehendem. Behutsam und fragend nähert man sich Liegenden, wie man an das Bett eines Menschen tritt, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Man bückt sich vielleicht, aber nicht untertänig, sondern eher forschenden Sinnes. Ein Gespür entsteht für die unausgesprochenen und die unaussprechbaren Dinge. Kein Baum wurde je für Folmer gefällt. Er bekam die vom Sturm gefällten, die vom Förster aussortierten, die unbrauchbaren, die vom Borkenkäfer zerfressenen Bäume. Oder er bekam den Baum, der die Grundfesten eines Hauses bedrohte und schließlich weichen musste. Keine Siegerbäume also. Folmer erhebt ihr Liegen auf kleine Pflöcke. Er begleitet ihr Sterben, er entkleidet sie, befreit sie von der Rinde, er beschleunigt ihre Auflösung und gibt ihnen doch etwas Zeit und Beachtung zurück. Folmer gestaltet das, was er vorfindet. Er geht auf Angebote ein. Dass es gerade aussortierte Baumstämme sind, dem misst er keine übermäßige Bedeutung zu. Er sieht sich weder als Umweltapostel noch als Samariter oder Weltverbesserer. Und doch ist es kein Zufall, dass Folmer ausgerechnet nach diesen vom Sturm bezwungenen Bäumen greift. Als aufmerksamer Beobachter des Weltgeschehens ist er betroffen von den verschiedensten stürmischen und katastrophalen Veränderungen, dem Verlust von Sicherheiten und unberührter Natur. Der Bestand der Natur ist heute ebenso gefährdet wie persönliche Anschaffungen: ob eine Flutkatastrophe das neu gebaute Haus zerstört oder ein Computervirus das Betriebssystem angreift. Wer neue Krankheitsviren besiegen will, jagt einem Phantom nach, da sie sich verändern, ihre Formen, ihr Verhalten und ihre Angriffstechniken. Ähnlich aussichtslos scheint der Kampf gegen Terroristen. Die Bombe kann überall losgehen, jeder kann betroffen sein. Rückzug ist kaum möglich. Elfenbeintürme gibt es nicht mehr. Folmers Betroffenheit spiegelt sich in seiner Bilderwelt. Figuren hängen kopfüber an dünnen Fäden. Die Sonne und ein Baum sind notdürftig aus Dachlatten gezimmert. Auf einem Auto reitet ein Dreirad. Die langen Ohren des Hasen schweben abgesägt über ihm. Der Hund hat sich das Maul mit hot dog vollgestopft. Auf dem Tisch brennt eine Grasnarbe. Skurrile Traumpoesie, in der das Heitere dem Alpdruck Parole bieten kann und das Komische dem Tragischen den Wind aus den Segeln nimmt Stürme des Unbewussten drängen in Folmers Bilder. Sie rütteln an Sehgewohnheiten und scheinbar fest Gefügtem. Verwehte Teile und Figuren finden sich zu neuen Ordnungen, denen Folmer eine eigene Gesetzmäßigkeit gibt. Stürme von Ideen jagen durch seine Hand auf die Stämme: eine sprudelnde Fantasie, die sich einer kindlichen Darstellungsweise bedient. Mit holzschnittartiger Vereinfachung sucht er das Lebensgefühl in einer immer komplizierter werdenden Welt zu fassen. Primitive Figuren werden in komplexe Zusammenhänge gestellt. Die Wiederkehr der mutierten Figuren, die Mühelosigkeit und Leichtigkeit der Bildfindungen entpuppt sich als Virtuosität. Das Leichte der Bilderwelt findet sich auf der Schwere der Stämme. Das Leichte ist schwer.

 

Beatrix Rey