Beatrix Rey

 

Mit Zwergen groß geworden

Zu Wolfgang Folmers Arbeiten der neunziger Jahre

In Holunderbüschen, sagt man, wohnen Zwerge. Sie tummeln sich dort mit manch anderen märchenhaften Gestalten, sprechen zuweilen die Menschen an. Aber wie kommen die Zwerge von dort in jene Kaserne, die die Nazis bauten? Die Eberhard - Ludwig - Kaserne im Westen von Ludwigsburg liegt inmitten eines Industriegebietes, keine Holunderbüsche weit und breit. Auch sonst erinnert nichts an eine märchenhaft phantastische Welt. In der Kaserne befindet sich das Zollamt, die Hundestaffel der Polizei, die Kreisergänzungsbücherei und ein griechisches Lyzeum. Im Dachgeschoss der Kaserne richtet sich Wolfgang Folmer 1996 neben anderen Künstlern sein Atelier ein. Er legt Wasserleitungen, montiert Lichter, aber die Heizmöglichkeiten bleiben dürftig. Das kalte Dachgeschoss war einst nur für soldatische Leibesübungen gedacht. Die verbliebenen Piktogramme an den Wänden erinnern an einen Trimm - dich - Pfad. Aber Folmer hat anderes vor, zieht im Winter zwei Skianzüge übereinander und zeichnet mit laufender Nase. Der dritte Winter ist besonders kalt. Bisher hat Folmer vorgegebene Bildwelten umgepflügt und äußere Gegenständlichkeit beackert. In diesem Winter wendet er sich seiner inneren Gegenständlichkeit zu. Schwungvoll wagt er sich an große Formate: Kohlezeichnungen und bald auch Pastelle. Eine Fülle innerer Bilder treibt ihn. Bilder der Kindheit und Jugend mischen sich mit den Bildern der gegenwärtigen Kriegsschauplätze. Das Kind Wolfgang Folmer überragt manche Gartenzwerge seines Vaters nur um wenige Zentimeter. Aug in Auge steht er ihnen gegenüber. Die Zwergesaugen wachen über die Rosenzucht des Vaters. Allzeit wachsam beobachten sie das Kind. Diese Fernrohre des väterlichen Blickes rufen: "Berühre die Rosen nicht"! Vor den Dornen hätte das Kind keine Angst, aber vor den Augen des Zwerges fürchtet es sich. Der Wächter - Zwerg ist eine Kinderscheuche, die sehen, womöglich auch sprechen kann und vielleicht zum Verräter wird. Der Zwerg ist ein wenig kleiner als das Kind, aber dank seiner beobachtenden Augen mit einer immensen Macht ausgestattet, mit einem großen Geheimnis. Mit dem spielt man nicht. Zwerge wohnen natürlich vor allem im Märchen. Das Kind Wolfgang Folmer hört die Märchen gern von der Mutter, obwohl der Junge sich in dieser oft grausamen Märchenwelt nicht wohl fühlt. Für den Märchengarten in Saarbrücken wird er fein angezogen, wie zur Kirche. Der Knabe betritt den Garten mit dem feierlichen Ernst der festlichen Kleidung. Er schreitet durch die fremde aufgestellte Welt. Überlebensgroß schauen Schneewittchens Zwerge auf den kleinen Wolfgang herab. Nur über die Pilze kann er gerade noch hinwegsehen. Nichts darf er anfassen, nichts verändern. Er tastet sich mit den Augen durch die stille, bunte Figurenwelt. Sie ist voller Geheimnisse. Er sieht, fühlt und fürchtet, dass es mehr darüber zu wissen gibt, als er weiß. Von den Erwachsenen so seltsam ernst genommen gibt ihm diese aufgestellte Zwergeswelt Rätsel auf. Mit seiner Kindheit lässt Folmer die Welt des Märchengartens sowie die feierliche Grausamkeit der Zwerge erst einmal hinter sich. Doch aufgestellte phantastische Welten gibt es auch für Erwachsene jede Menge - zumindest in Folmers Heimat. Er entdeckt diese Eigenart seiner saarländisch-lothringischen Wurzeln aus dem Abstand des Studienortes. In den Semesterferien kommt er und fängt sie mit dem Fotoapparat ein. Zunächst sind da die Sofas der Nachbarin "es Otto, Anna": dort türmen sich Teddys, Stofftiere, Puppen und Porzellanfiguren neben Sofakissen und dem in Samt gekleideten Telefon, verdeckt von Strohblumengestecken und dicht überhängt mit Puzzlespielen in Zierleisten gefasst. Eine barock wuchernde Fülle auf engstem Innen-Raum. Das Pendant im Außen-Raum spiegelt sich in der Verkaufsausstellung eines Baumarktes. Was dort an klassischen Formen, Säulen, Treppen, Becken und Figuren aus weißem Plastik angeboten wird, stellen sich die Leute in den Vorgarten. Das immer gleiche Formen-Repertoire variiert nur durch die Auswahl und die Anordnung zu neuen Vorgarten-Bildern: oft genug furchtbar unpassende, beziehungs- und seelenlose, zusammengestückelte Bilder. Folmer beschäftigt sich mit diesem versponnenen Alltags - Spleen seiner Heimat. Hier im Grenzland gibt es seltsame Überlagerungen, Anhäufungen, Fremdheiten der Dinge und Figuren. Er findet jede Menge versuchte Ordnungssysteme. Folmer entdeckt: man kann alles nehmen, es ist eine Fülle da, man kann alles umdeuten ineinander projizieren und beseelen. In der Zusammenstellung und Anordnung liegt die Aussage. Solches Denken zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, durch die verschiedensten Arbeitstechniken. In seiner Heimat prägte die Stahlindustrie das Bild. Die Förderanlagen der Gruben und die Hochöfen der Hütten wirken wie riesige, unheimliche Tiere, die auf dem Boden schnüffeln, abends umspannt von einem phantastisch roten Himmel, dem feurigen Wiederschein der Hochöfen. In der lothringischen Tellerlandschaft sitzen einzelne Baumgruppen, Haufendörfer oder Feldherrenhügel wie auf dem Präsentierteller. Diese Landschaft ist zur Aufstellung von Heeren - zum Kriegführen - bestens geeignet. Die endlosen Reihen aufgestellter Soldatenkreuze bei Verdun zeugen von jenem vernichtenden Höllenfeuer. Schon früh beschäftigt Folmer die Grausamkeit der Menschen im Krieg. Immer wieder sucht er das nahe seiner Heimat gelegene Verdun auf. Er besucht das Kriegsmuseum und verarbeitet später die dort entstandenen Fotos und Videos in seiner Kunst. Die Granaten aus den Vitrinen von Verdun tauchen mit den inneren Bildern des Künstlers auf großen Kohlezeichnungen auf: in der Eberhard - Ludwig- Kaserne, in jenem dritten kalten Winter. Sie treffen dort auf die Zwerge aus Folmers Kindheit und verbinden sich seltsam leicht mit diesen kleinen Ungeheuern und ihren rätselhaften Drohungen. Die Zwerge halten Einzug in Folmers Bilderwelt. Mit diesen Figuren findet er eine stille Sprache, die Ungeheuerlichkeiten der Erwachsenenwelt, die Grausamkeiten und die großen Rätsel unserer Zeit auszusprechen. In die Zwergwelt projiziert Folmer sein Weltverständnis, seine Versuchs - Anordnungen von Weltverständnis. Im bildnerischen Spiel mit den Zwergen, spielt er die Welt nach, um sie sich zu erklären, um sie zu begreifen: die gegenwärtigen Kriege vor dem Hintergrund der vergangenen. Mit Krieg hat sich auch der große lothringische Grafiker Jacques Callot auseinandergesetzt, im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts arbeitend. Auf seinen Zeichnungen drängen sich eine Fülle von Gegenständen und Figuren, eine Fülle, die wir bei Folmer eher auf vielen Blättern verteilt finden. Lothringisch-saarländische Verwandtschaft zwischen den beiden Grafikern findet sich insofern, da man einige von E.T.A. Hoffmanns Bemerkungen über Jacques Callot enauso gut auf Folmer anwenden kann: so attestiert der Dichter Callot "Zauber einer überregen Phantasie", wundert sich, dass ihm Callots "Gestalten, oft nur durch ein paar kühne Striche angedeutet, nicht aus dem Sinn" kämen und stellt fest, dass bei Callot unter dem "Schleier der Skurrilität geheime Andeutungen verborgen" lägen. (s. E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier) Ausgehend von den ersten Zwergbildern entstehen bei Folmer endlose Variationen und zusammenhängende Bildfolgen, indem er seine Kohlezeichnungen auf leere Blätter überträgt. Die Originalzeichnung lässt sich einfach auf das neue Blatt abreiben und findet sich dort als blasse Zeichnung wieder. Auf dieser Grundlage können die Motive nun verändert werden: Teile werden weggelassen, neue hinzugefügt. Bei dieser Kohle - Abklatsch - Technik entsteht das Bild aus dem Bild, welches aus einem wieder anderen Bild entstanden ist usw. ... Aus der Fülle des Bildmaterials und der Bildmotive schöpfend gelingt es Folmer, der sich bisher hauptsächlich als Zeichner verstand,Themen farbig aufzugreifen und auszuarbeiten. Ungewöhnlich große Pastelle entstehen in Farben einer phantastischen Welt. Ein besonderes Braun kommt zum Einsatz: eine billige Pastellkreide aus tonartigem Material erschafft Bäume und Wälder, in denen längst nicht mehr nur Zwerge leben, sondern allerhand märchenhafte Wesen. Aus dem Holunderbusch werden Holderbäume, Holderwälder und daraus hölzernes Baumaterial, aus dem wieder neue Figuren gezimmert werden. Die Zwerge mutieren teils in Pinocchiofiguren, die mit ihren aufgesteckten langen Nasen hölzern durch die Bilder stolpern. Eine weibliche Variante kommt hinzu: die Holzstock-Baumfrau hat drei Brustpaare und teils eine Pinocchionase. In ihrer breitbeinig sitzenden Haltung kippelt sie und findet auch mit ihren abgesägten Armen und Beinen keinen rechten Halt. Von den vorgefundenen, äußerlich aufgestellten Welten sucht Folmer den Weg zu seinen inneren ständig neu entstehenden Fantasiestücken. Weit davon entfernt, etablierte Einsichten und vorgefertigte Ideen in Zeichnungen zu illustrieren, zeichnet er Gedanken, Ideen, Eindrücke, die durch ihn hindurch gegangen sind und sich so verändert haben, phantastisch geworden sind und auftauchen, wenn ihre Zeit reif ist. Die von Folmer geschaffenen phantastischen Welten haben eine Kindheit, eine Heimat, Nachbarn und Vorfahren und doch erschöpfen sie sich nicht in diesen. Beatrix Rey

 

Beatrix Rey